Wie ich im betrunkenen Zustand Astrid Lindgren interviewte


Inzwischen wollen eine Menge Leute wissen, wie das passieren konnte. Vielleicht könnte ich anführen, ich war jung und brauchte Probleme?

Tatsache ist, ich hatte welche. Ich steckte damals in meiner ersten ernsthaften und gleichzeitig sehr komplizierten Beziehung. (Nebenbei bemerkt nicht nur die schwierigste, sondern eigentlich die einzige richtig problematische, die ich je hatte.)

Meine Freundin Ingrid war auch Journalistin, aber vor allem Fotografin und ich ihr bevorzugtes Modell. Sie fotografierte mich so andauernd, dass es mir schon nicht mehr auffiel. Ständig hörte ich ihr dunkle, etwas nölige Stimme: „Halt mal eben still, Kind – Kopf etwas höher – danke!“

Sie fotografierte mich mit Wind im Haar oder im Bemühen, mit einer Stadttaube auf einem Parkplatz ins Gespräch zu kommen – oder wie und wo immer. In jeder Lebenslage: „Halt mal eben still, Kind – danke!“

Und sie schnappschusste einen kleinen Hafen irgendwo in Dänemark, wo ich, auf einer Mole sitzend, nur als Accessoire  diente. Da waren wir beide bereits auf unserer Reise nach Schweden.

Ingrid wollte rauskriegen, ob ein gewisser Fred ein Mann zum Heiraten wäre.

Er hatte ihr – brieflich – einen Antrag gemacht. Sie kannte ihn aus Hamburg, inzwischen lebte er seit mehr als einem Jahr in der Nähe von Stockholm. Im direkten Kontakt hatte er sie nicht sehr überzeugt, im Briefwechsel beeindruckte er plötzlich. Genug, um auszuwandern? Das galt es  festzustellen. Sie bat mich, mitzukommen und sie zu beraten. Wie sie auf  die Idee kam, ich mit meiner verkorksten Beziehung könnte ein guter Ratgeber in Liebesdingen sein, weiß ich auch nicht.

Ingrid und ich arbeiteten beide für den Jahreszeiten-Verlag in Hamburg, ich hatte jedoch nebenbei Kontakte zu anderen Medien, schrieb auch schon für den NDR und manchmal, wenn ich Glück hatte, für den STERN, damals ein recht renommiertes Magazin. Als Ingrid mit ihrer Schwedenreise kam, fiel mir  ein, uns alles ein wenig finanzieren zu lassen. Ich fragte also eine befreundete STERN-Ressorleiterin, ob sie es nicht sinnvoll fände, wenn ich in Stockholm Astrid Lindgren interviewte?  Das fand sie sogar sehr sinnvoll, denn sie brachten gerade einen großen Beitrag über ‚Wie – und vor allem wann – sag ich’s meinem Kinde?‘ Da würde sich ein Kasten mit kurzem Statement der berühmten Kinderbuch-Autorin ausgezeichnet machen.

Irgendwie kriegte ich es hin, auch noch Ingrid in den Deal einzuarbeiten: Klar, ein schönes, aktuelles Porträtfoto war erwünscht. Wir konnten mit fetten Honoraren rechnen. Damals zahlten Zeitschriftenverlage noch sehr großzügig.

Der Oetinger-Verlag, der Lindgrens Bücher in Deutschland herausbrachte, arrangierte für mich tatsächlich innerhalb kürzester Zeit einen Interview-Termin mit der Schriftstellerin. 

An einem Montag Mitte Juni fuhren Ingrid und ich sehr früh am Morgen in ihrem uralten VW-Käfer los, nach Norden. Einen Tag würden wir für die Fahrt benötigen, drei Tage dort sein und einen Tag zurück fahren. Wir hatten die Absicht, gnadenlos durchzufahren, um am späten Abend in Schweden anzukommen.

Das schafften wir tatsächlich – wobei uns auffiel, dass in dieser Jahreszeit dort kein später Abend stattfand. Im Prinzip war es 22:00 Uhr, doch die Sonne schien verträumt weiter, etwas verschleiert und tiefgerutscht am Horizont.

Fred wohnte zwar tatsächlich am Rand von Stockholm, aber gleichzeitig – im Wald. Das ist über vierzig Jahre her und es mag sein, dass die schwedische Hauptstadt inzwischen nicht mehr von derart dichten Wäldern umgeben ist. Ingrid und ich zweifelten – völlig Navi-los, mit Karte auf den Knien – bis zuletzt, ob die Adresse stimmte. Wir waren die letzten Stunden praktisch nur durch hellen Birken- oder Buchenwald gefahren, auf einer einsamen Landstraße, die ununterbrochen scheinende Sonne immer links von uns.

„Hier sollte es sein!“, sagte Ingrid zweifelnd. Und das stimmte tatsächlich. Als wir um die nächste Kurve bogen, standen dort auf einer Lichtung zwei Häuser. Davor, wartend und rauchend am Wegesrand, zwei junge Männer mit einem wuscheligen Hund.

Einer der drei war Fred, schnauzbärtig, kurzbeinig, fröhlich. Daneben sein Hund Geronimo. Mit dem Dritten hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Fred hatte völlig vergessen, ihn in seinem Briefwechsel mit Ingrid zu erwähnen.

Das war Beat.

Aus irgendeinem Grund hielt das Schicksal es für notwendig, ihn mit schrägstehenden dunkelgrünen Augen, hohen Wangenknochen und dunklen Locken auszustatten. Ich wollte doch von meinen Problemen wegfahren und hatte schon wieder eins, bevor ich auch nur aus dem VW krabbelte.

Die beiden servierten uns ein nettes, gemeinsam gekochtes Abendessen und machten uns mit den näheren Umständen vertraut. Da sie gemeinsam in einem Architektenbüro arbeiteten, wohnten sie hier zusammen, in zwei ursprünglich simplen Ferienhäusern, die sie nach Belieben ausgebaut hatten mit viel Holz und Glas. Die City von Stockholm, so unglaubwürdig es klang, lag wirklich nur eine knappe Stunde mit dem Wagen (oder, in ihrem Fall, mit Motorrädern) entfernt.

Fred vor allem erzählte. Beat wirkte zunächst ungewöhnlich schweigsam. Zudem litt er an einem Sprachfehler: Er war Schweizer. Bevor er etwas sagte, dachte er lange nach und trennte sich schließlich umständlich und ungern von den Silben. Dafür starrte er mich ununterbrochen quer über den Tisch aus seinen bemerkenswerten Augen an. Später stellte sich heraus, dass er absolut gesprächig war. Nach ein paar Stunden verstand ich ihn sogar. 

Wir waren spät angekommen, hatten spät gegessen und lange geredet. Nach einer Weile machte die Sonne am Horizont einen Knicks und stieg, nach rechts, wieder hinauf. Wir  trennten uns, um zur Abwechslung mal zu schlafen – Ingrid und ich im rechten Haus, das Fred gehörte. Fred, Beat und der Hund im linken Haus.

Am Vormittag trafen wir uns wieder zum Frühstück im Garten. Unsere Gastgeber hatten sich für uns einen Tag frei genommen. Natürlich wollten Ingrid und Fred viel und ausführlich miteinander sprechen – es ging ihm schließlich darum, sie zu überreden, ein für alle Mal in sein Holz-und-Glashaus zu ziehen.

Das warf gewissermaßen Beat und mich auf uns zurück. Er fuhr in Ingrids Auto mit mir in der Gegend herum, lud mich zum Essen in ein uriges Restaurant ein, zeigte mir einen märchenhaften See in der Nähe – und erzählte und erzählte. Tatsächlich war er redelustiger als die meisten Menschen, und was er sagte, war durchaus interessant und gefiel mir. Er gefiel mir überhaupt ganz über Gebühr. Ich erwähnte vorsichtshalber des Öfteren meinen schwierigen Freund  zu Hause – dass wir eine Wohnung suchten, um zusammen zu ziehen. Dass wir praktisch so gut wie verlobt wären. Beat  hörte sich das ruhig an und schlug vor, ich sollte stattdessen lieber bei ihm in seinem Holz- und Glashaus bleiben. Er meinte, er hätte sein Leben lang (er war 27) auf mich gewartet.

Schweden kann, wenn es sich richtig anstrengt, ungefähr so romantisch sein wie Venedig. Diese ständige Sonne hat was, die Einsamkeit, die Wälder, der verzauberte See bei Nacht – ohne Nacht. Da hörten wir einen klagenden Ruf – mehrere Rufe – Wölfe?! Nein, sagte Beat, das sind Seetaucher. Später hörte ich ihre Stimmen in Kanada wieder. 

Und genau wie Kanada beherbergt Schweden Milliarden von Mücken. Ich blickte in Beats dunkelgrüne Augen, sehr dicht vor mir – und hörte ein bösartiges Sirren direkt an meinem Ohr. Das ruinierte die Romantik. Bevor es zu ernsthaften Tätlichkeiten kommen konnte( von wem auch immer, Schweizer oder Mücke), wollte ich zurück ins Haus, und zwar sofort.

In  der ersten Nacht hatten Ingrid und ich nur geschlafen, total erschöpft von unserer Reise. In der zweiten redeten wir. Sie war sich inzwischen ganz ohne meine Ratschläge klar darüber geworden, dass sie Fred gern als Brieffreund  behalten – aber auf keinen Fall heiraten wollte.

Was mich anging, mir war überhaupt nichts klar. Ich fühlte mich, eigentlich ungewöhnlich für mich, völlig durcheinander. Normalerweise wusste ich sehr genau, was ich wollte und was ich nicht wollte. Augenblicklich hatte ich diesbezüglich keinen Schimmer. Das war ich nicht gewohnt und es machte  mich ganz wuschig.

Wir frühstückten spät und diesmal allein, weil die Architekten früh in ihr Büro gefahren waren. Ich konnte kaum etwas essen, ich wurde immer verwirrter, je mehr ich versuchte, Klarheit zu gewinnen. Würde ich anstelle von Ingrid in einem schwedischen Wald im Glas- und Holzhaus bleiben? Und wie verliebt war ich eigentlich in wen?

Ingrid, immer hilfreich, bot mir einen Schluck aus ihrer kleinen silbernen Taschenflasche an: Whisky hatte sie grundsätzlich bei sich. Sie meinte, das würde mich beruhigen.

Ich trank hoffnungsvoll ein Schlückchen und noch ein Schlückchen während wir redeten und mein Problem von allen Seiten beleuchteten.

Schnaps schien mich wirklich zu beruhigen, deshalb nahm ich, nachdem die kleine Taschenflasche leer war, Cognac aus Freds Hausbar zu mir – noch ein Gläschen. Und noch eins.

Irgendwann fiel uns ein, dass wir am frühen Nachmittag bei Astrid Lindgren sein wollten: 14:00 Uhr war unser Interview-Termin. Ich stand energisch auf – und fiel fast in die nächste Vitrine. Solange ich gesessen hatte, war es mir nicht aufgefallen. Nun plötzlich begriffen wir beide erschrocken: Ich war stockbesoffen!

Ingrid, bedeutend trinkfester als ich (sie trug, wie gesagt, ihren Whisky immer bei sich), hatte nicht darauf geachtet, was ich alles in mich hineintankte. Sie ließ mich ein großes Glas Wasser trinken in der Hoffnung, den Alkohol in mir zu verdünnen. Das brachte wenig. Außerdem mussten wir wirklich aufbrechen.

An der frischen Luft verstärkte sich mein Zustand. Immerhin war ich inzwischen nicht mehr verwirrt, sondern absolut heiter. Ich kicherte fortgesetzt, vor allem darüber, dass es mir nicht gelang, in den VW zu kommen. Ich verfehlte mehrmals die Autotür, Ingrid musste wieder aussteigen und mich in den Wagen setzen.

Wir fuhren also nach Stockholm, ich kichernd, meine Freundin besorgt. Unterwegs kaufte sie an einem Imbiss ein fetttriefendes Würstchen mit Brötchen und zwang mich, beides zu verschlucken. Erfreulicherweise wurde mir nicht übel, aber es änderte im Übrigen nichts an meinem Zustand. In einem letzten Versuch, den zu vertuschen, besprühte Ingrid mich mit Kölnisch Wasser und zerrte mich dann die Treppe hinauf in der Dalagatan 46, gegenüber dem Vasapark.

Wir klingelten, ich holte tief Luft, konzentrierte mich über alle Maßen, stoppte meine Kicheranfälle und bemühte mich um ein nüchternes Gesicht. Astrid Lindgren öffnete uns selbst. Sie war kleiner, zierlicher und sehr viel seriöser und zurückhaltender als erwartet . 

Sie setzte uns auf ein Sofa, nahm uns gegenüber Platz, und wir begannen mit dem Interview. Ich hatte mir schon zu Hause in Hamburg meine Fragen auf einem Block notiert – gottseidank. Ich konzentrierte mich unendlich darauf, klar und deutlich zu reden, ohne so zu wirken, dass es mich anstrengte, klar und deutlich zu  reden.

Frau Lindgren sprach fließend Deutsch.

Ich verzichtete darauf, wie eigentlich geplant, ihr anzuvertrauen, dass ich mir anhand von ihrer Pippi Langstrumpf selbst mit knapp vier Jahren Lesen beigebracht hatte. (Ganz am Anfang von Pippi, in der zweiten Zeile, steht zweimal das Wort GARTEN, das erste Wort, das ich erkennen konnte, weil meine Eltern es mir so oft  vorgelesen hatten, dass ich es auswendig wusste. Das zweite Wort, ebenso identifiziert, war HAUS, ebenfalls zweimal, in der Zeile direkt darunter. Mit diesen beiden Schlüsseln lernte ich, wie Buchstaben geformt sein müssen, um Laute widerzugeben.)

Übrigens ermutigte Astrid Lindgren gar nicht zu Vertraulichkeiten oder langem Geplauder. Eigentlich wirkte sie am ehesten so, als hätte sie es gern schnell hinter sich. Und das war ja in diesem Fall ganz in meinem Sinne.

Ich stellte so knapp und sachlich wie möglich meine Fragen, sie antwortete ebenso. (Nein, ich glaube nicht, dass ich irgendwie betrunken wirkt und dass es damit zu tun hatte.)

Vielleicht hatte sie an diesem Tag ihre eigenen Sorgen? Vielleicht war sie von Natur aus eher zurückhaltend? Ingrid und ich stimmten hinherher überein, dass wir eine humorvolle, herzliche, extrovertierte Person erwartet hatten, ausgehend von ihren Büchern. Doch sie lächelte nicht einmal. Ihr schmales kleines Gesicht unter dem kurzen Pony wirkte die ganze Zeit ernst und sorgenvoll.

Sie ließ sich geduldig von Ingrid fotografieren, sie hatte mir einen sehr klugen Text zur Frage: ‚Wann sollten Kinder aufgeklärt werden?‘ (so früh wie möglich, jedoch völlig individuell verschieden von Kind zu Kind) geliefert.

Nach weniger als zwanzig Minuten verabschiedeten wir uns. Die Wohnungstür schloss sich, wir standen allein im Treppenhaus. Ich holte noch einmal tief Luft, hörte auf, mich anzuspannen und fiel ein Stück die Treppe hinunter. Als Ingrid herbeistürzte, um mir aufzuhelfen, kicherte ich schon wieder.

Am Abend bemühte Ingrid sich, Fred so nett und taktvoll wie möglich ihre Absage klarzumachen. Er reagierte gekränkt und patzig. Dann knöpfte er sich meine Person vor – als ich gerade allein in seiner Küche saß und Kartoffeln schälte, inzwischen allmählich nüchtern – und hielt mir eine Predigt: Offenbar hätte ich die Absicht, mit seinem Freund Beat ‚zu spielen‘ durch meine typisch weibliche Wankelmütigkeit! Was er verhindern würde!

Ich hörte erstaunt zu. Seine Worte erleichterten mir – ganz ohne, dass ich noch einmal mit dem Schweizer sprach – die Entscheidung, ob ich in Schweden bleiben sollte oder nicht.

Wir vier aßen unter beklemmendem Schweigen zusammen. Beats interessante grüne Augen schauten konsequent an mir vorbei. Sogar Geronimo, der Hund, hatte Ingrid angeknurrt und sah völlig beleidigt aus.

Am nächsten Tag erklärten die beiden Architekten uns, sie müssten unvermutet zu einer Grundstückbesichtigung in Gustavsberg (oder so ähnlich) und würden erst spät am Abend zurückkommen. Um uns zu bespaßen hatten sie einen dicklichen, uninteressanten Anders rekrutiert. Dieser Anders zeigte uns touristische Höhepunkte von Stockholm und der Umgebung, kaute dabei  Kaugummi und guckte ab und zu auf seine Armbanduhr, ob der Tag nicht bald vorbei wäre. Aus irgendeinem Grund kam es Ingrid und mir so vor, als hätten sämtliche Schweden, die wir sahen, griegrämige und gnatzige Gesichter.

Wir schickten Anders bereits am späten Nachmittag mit vielem Dank nach Hause, fuhren zurück zu den Glas- und Holzhäusern im Wald und packten schon mal, um bloß am anderen Morgen früh wegzukommen.

Als wir losfuhren, sahen wir im Rückspiegel die beiden Waldbewohner, die uns, neben dem Wuschelhund am Straßenrand stehend und rauchend, vorwurfsvoll hinterher schauten. 

Für unsere Rückreise nahmen wir uns mehr Zeit. Eigentlich hatten wir zum Wochenende zurück sein wollen. Jetzt realisierten wir, dass schließlich Wochenende war und es keinen Grund gab, uns zu beeilen. Der alte VW zeigte sich ausgesprochen dankbar dafür, an diesem heißen Tag langsamer fahren zu dürfen. Wir kratzten unser letztes Geld zusammen und übernachteten in einem netten kleinen Hotel im bezaubernden Kopenhagen.

Ja, so war das, als ich vor langer Zeit, stark alkoholisiert, Astrid Lindgren interviewte. Ich wusste nicht, dass Trunkenheit sich tatsächlich – zumindest eine Zeitlang – durch Konzentration beherrschen lässt. Aber es ist möglich …

Glücksfaktor: Erinnerungen.

 

 

 

 

 


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