Wieviel Wasser braucht der Mensch?


Als meine Mutter in die ‚Seniorenresidenz‘ kam, da hatte sie einige Probleme. Und die Residenz, soviel steht fest, hatte auch welche.

Vor einiger Zeit traf ich beim Einkaufen im Nachbarort eine Frau, von der ich wusste, ich kannte ihr Gesicht irgendwoher – bloß woher? Sie strahlte mich an, ich lächelte vorsichtshalber zurück (das war kurz vor der Maskenzeit) und sie klärte den Fall sofort auf, indem sie rief: „Sie sind doch die Tochter von Frau Seifert!“

Natürlich, sie war Pflegerin im Heim, da waren wir uns manchmal begegnet. „Ach Gott, Ihre Mutter!“, sagte sie, „DAS war eine Frau! Die werde ich nie vergessen. Hab noch kürzlich jemandem von ihr erzählt. So was wie die hatten wir noch nie bei uns. Eine starke Persönlichkeit.“

Ich fragte nicht, ob ihre Erinnerung eher positiv oder negativ war, wir wünschten uns alles Gute und gingen unserer Wege. Und ich dachte wieder mal über die Mama nach. Zart und klein, aber eine bärenstarke Persönlichkeit, in der Tat. Wie sie wohl im Jenseits mit ihr zurechtkommen?

Da war unter anderem das Wasserproblem.

Menschen neigen ja sehr dazu, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu glauben, sie zu verinnerlichen und großzügig an andere weiterzugeben.

Anfang des vorigen Jahrhunderts zum Beispiel zwang man unzählige unschuldige kleine Kinder, Spinat zu essen. Weil er so wunderbar eisenhaltig war, 26 Milligramm Eisen in 100 Gramm Spinat! (Später stellte sich heraus, dass um 1890 herum ein schusseliger Lebensmittelanalytiker das Komma falsch gesetzt hatte; 2,6 Milligramm Eisen hat Spinat auf 100 Gramm. Das ist ziemlich mittelmäßig.)

1929 entstand die Comicfigur Popeye, ein knautschgesichtiger Seemann, der sich hin und wieder aus einer Konservendose Spinat in den Hals kippte, was ihm jedesmal zu übermenschlichen Kräften verhalf. Als sich später der Irrtum mit dem Komma herausstellte, hieß es, Popeye hätte lieber die Konservendose selbst konsumieren sollen, um seinen Eisenpegel zu heben.

Meine wohlmeinenden Eltern boten mir übrigens auch oft die schleimige grüne Pampe an, respektierten jedoch meinen fest geschlossenen Mund. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft, wir waren beide zwischen drei und vier, der bekümmert meinte: „Es sieht aus wie Hühnerkacke!“

Als meine Mama – in ihrem 90. Sommer- im Heim landete, wusste jeder gebildete Mensch, man müsse pro Tag drei Liter Wasser zu sich nehmen, egal, ob durstig oder nicht.

Bei meinem ersten Besuch in ihrem schönen neuen Zimmer klagte sie mir: „Die wollen mich hier ersäufen!“ Sie argumentierte, sie hätte gerade keinen Durst. Eine Pflegeperson, die nicht ahnte, mit wem sie es zu tun hatte, erklärte: „Das wissen Sie gar nicht, ob Sie Durst haben!“

Das war definitiv der ganz falsche Text. Was folgte, war die Wasserrevolte.

Meine Mutter merkte, dass die Heimleitung und das Pflegepersonal ‚zusammenhielten‘. Immer wieder tauchte jemand auf und wollte sie dazu überreden, Wasser zu schlucken, drei Liter am Tag.

Ihr Credo lautete jedoch: Ich trinke, wenn ich Durst habe. Und wann ich Durst habe, weiß niemand außer mir.

Was sie benötigte, waren Verbündete. Die anderen alten Herrschaften tranken brav ihre Wasserration, weil das bequemer war, als das Gemecker der Betreuer anzuhören. Nun stellte es sich bald heraus – nachdem meine Mutter, vorsichtig ausgedrückt, ‚das Gespräch suchte‘ – dass es bequemer war, Wasser zu verweigern, als Mamas Ausführungen zu lauschen.

Die Angelegenheit eskalierte eines mittags, als niemand mehr, durch meine Mutter angestiftet, ‚zwangstrinken‘ wollte. Danach gab es noch mal ein ernsthaftes Gespräch mit der Heimleitung, in dem meiner Mama zugestanden wurde, in Gottes Namen so viel oder so wenig zu trinken wie sie wollte, solange sie die anderen Residenzbewohner damit in Ruhe ließ.

(Übrigens entzog meine Mutter sich dort auch dem ‚legeren Ton‘: „Wir duzen uns hier alle, das ist viel netter!“ Sie machte ihren langen Hals und verlangte: „Ich bin für Sie Frau Seifert!“ – und dabei blieb sie bis zu ihrem schließlichen Ende. Sonst hätte die Pflegerin, die mir begegnete, ja auch von ‚unserer Ursula‘ gesprochen.)

Was das Wassertrinken angeht, das wird inzwischen vorsichtig zurück genommen. Ja, gesund ist es natürlich immer noch. Aber ‚je mehr je lieber‘ stimmt auch wieder nicht, es kann sogar zuviel werden und schaden. Da las ich den schönen Satz: „Eigentlich sollte jeder nur auf den eigenen Körper hören, der sagt schließlich durch Durst, wann getrunken werden muss.“

Schade, dass ich das der Mama nicht mehr vorlesen kann. Hätte ihr sehr gefallen.

Glücksfaktor: Ein wenig Individualismus.

 


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