Mehr geht nicht. Wir wissen nahezu alles. Den Rest müssen wir gar nicht wissen.
Vor allem wissen wir mehr als jemals ein Mensch zuvor – oder vielmehr: als die Menschen vor uns. Die haben sich teilweise ja ganz schön vertan. Eigentlich darf man sagen, sie waren mehrheitlich auf dem Holzweg. Man kann nur den Kopf schütteln.
Inzwischen sind wir wacher. Dadurch erkennen wir, wie kreuzdämlich die Menschheit früher war.
Ich will jetzt nicht bei den Höhlenmenschen anfangen, die sich ja offenbar nach letzten Erkenntnissen einigermaßen vorurteilsfrei mit Neandertalern gekreuzt haben. Es reicht, auf Leute wie die Inkas, Mayas und Azteken zu gucken. Allesamt völlig verdummt durch ihre religiös geprägte Weltanschauung.
Ihr jeweiliger Obermotz war, vereinfacht gesagt, zusätzlich höchster Priester. (So ähnlich wie jetzt noch im englischen Königshaus, der Monarch ist gleichzeitig das Oberhaupt der Kirche.) Der Typ auf dem Thron: gewissermaßen eine Mischung aus Kanzler und Papst. Nur mit ihm sprachen die Götter – wieso hätten sie auch mit wem reden sollen, dem keiner zuhört, wenn er was weitergibt? – nur er konnte ihren Willen verbreiten. Der war teilweise drastisch. In Mittelamerika fanden Menschenopfer in großem Ausmaß statt. Besonders schmerzlich berührt uns heute das Opfern vieler Kinder, die man in Käfigen verhungern ließ oder denen man den Brustkorb aufmeißelte, um das schlagende Herz herauszuholen und den Göttern zu präsentieren.
Möglicherweise existierten einige Menschen (am ehesten Mütter und Väter?) die dachten oder sogar sagten: „Seid ihr eigentlich alle bescheuert? Wieso müssen wir denn unsere Kinder abmurksen?“ – doch die Mehrheit des Volkes wusste definitv, dass dies zu geschehen hatte, um die Götter zu versöhnen und das Wetter zu ändern. Sie glaubten sich auf der Höhe der Erkenntnis.
Wir können darüber nur den Kopf schütteln.
Das Christentum, die weltweit erfolgreichste Religion, brachte eine Erleichterung. Obwohl dieses Unternehmen über eine beachtliche Menge von Märtyrern verfügte, missbilligte es prinzipiell Menschenopfer.
Irgendwie religiös oder gläubig waren die Menschen eigentlich überall und immer gewesen. Doch dieses neue Unternehmen verbreitete seine Botschaft ganz besonders energisch, nach Möglichkeit bis in den letzten Winkel, durch Missionare und Kreuzzüge. Eigentlich bedeuteten die Botschaft letztendlich Frieden. Doch auf dem Weg dorthin musste mancher Schädel eingeschlagen und manche Brust durchbohrt werden. Das gute Gefühl dabei vermittelte die Gewissheit, sich auf dem Gipfel der Erkenntnis zu befinden. Wir sind die Guten – die anderen haben keinen Schimmer und sind die Bösen: Ungläubige, Heiden, Ketzer.
Die Anhänger der zweitgrößten Religionsgemeinschaft auf diesem Planeten, die Muslime, sehen das übrigens genauso. Nur sind in diesem Fall natürlich sie es, die auf dem Gipfel der Erkenntnis hocken.
Nachdem man also wusste, wo sich die Guten befinden, bekam man schnell heraus, wo die Bösen sitzen. Im Regierungsgebiet der Hölle natürlich. Magier, Teufelsanbeter und Hexen. Vor allem Hexen.
Das enthielt wissenschaftlichen Hintergrund. Es gab Bücher, die genau erklärten, woran man Hexen erkennen konnte und auf welche Art sie zu verhören (und zu foltern) wären. Alles auf dem Höhepunkt der damaligen Erkenntnis. Überwiegend im 17. Jahrhundert wurden in Europa ungefähr 50.000 Hexen hingerichtet, vor allem Frauen.
Vielleicht gab es hin und wieder so was wie ‚Querdenker‘ (mir fällt gerade kein besseres Wort ein), die versuchten, auf den Wahnsinn aufmerksam zu machen. Andererseits dürfte das eine gute Methode gewesen sein, selbst auf dem Scheiterhaufen zu landen.
Man kann nur den Kopf schütteln.
Wissenschaft existierte bereits im Altertum und im Schatten der Pyramiden: Forschung, Vermutung und Experimente.
Es dauerte geraume Zeit, bis sie sich beispielsweise auf dem Gebiet der Medizin von Glauben (heiltätige Mönche und Nonnen, ‚Gesundbeten‘) und Aberglauben wie Kräuterkunde und Homöopathie befreien konnte und zur reinen Chemie mit Nebenwirkungen überging. Eigenartigerweise befanden sich die Ärzte ihrer Zeit jeweils auf dem Gipfel der Erkenntnis. Keinem war klar, dass ihr Tun widerlegt werden könnte und neuere Erkenntnisse das Gegenteil beweisen würden.
Je nach der Zeit, in der sie lebten, wussten die Menschen alles. Sie wussten, dass es ungesund ist, zu baden oder die eigene Haut oft zu waschen – dass Krankheiten durch Dämpfe übertragen werden, die aus dem Boden steigen – dass Sklaverei ein gottgewolltes Geschick sein muss – dass jemand mit einer fremden Sprache ‚Kauderwelsch‘ redet, also (weil unverständlich), dummes Zeug. Sie wussten, dass Rauchen unschädlich ist und Radioaktivität ein harmloses Treibmittel. Sie waren völlig überzeugt davon, dass es eine menschliche ‚Herrenrasse‘ gibt, die allen anderen überlegen ist. Dass Tiere weder denken noch fühlen. Dass die Schädelform eine Menge über den Charakter aussagt. Oder dass man Neugeborene fest umwickeln muss, um ihrem Körper Halt zu geben. (Und das denken im Moment wieder viele Eltern. Manche Überzeugungen sind Wiedergänger.)
Kürzlich las ich den Artikel einer Literaturwissenschaftlerin, die verlangte, man möge ‚Robinson Crusoe‘ bitte nicht mehr lesen. Der Verfasser, Daniel Defoe, sei selbst ein ‚Profiteur des Sklavenhandels und Verherrlicher des Kolonialismus‘ gewesen, weshalb der Roman penetrant diese Ansichten vertrete. Im Übrigens sei der sowieso langweilig und dürfe kein Kind interessieren.
Kurz zu Defoe: Er schrieb 1701 ein satirisches Gedicht ‚Der waschechte Engländer‘, in dem er das intolerante und nationalistische Verhalten seiner Landsleute anprangerte, und er trat durch seine journalistische Arbeit nachdrücklich für religiöse Minderheiten ein. Übrigens musste er deshalb sowohl an den Pranger als auch in den Knast. Trotzdem teilte er selbstverständlich viele der gängigen Ansichten seiner Zeitgenossen. Er war, wie alle seiner Generation, auf der Höhe der Erkenntnis.
So etwas sollte eine Literaturwissenschaftlerin eigentlich wissen. Wegen inzwischen überholter politischer Ansichten ein Stück klassischer Literatur als langweilig zu erklären finde ich etwas kläglich.
Immerhin liegt es im Trend. Durch fortschreitende Erkenntnisse sind wir in letzter Zeit ganz erstaunlich in der Lage, über frühere Mitglieder unserer Spezies den Kopf zu schütteln und sie notfalls rückwirkend auf den richtigen Weg zu holen. Es nützt ihnen nichts, wenn sie inzwischen tot sind. Verbesserung geht immer. Wir nehmen es den Persönlichkeiten der Vergangenheit ganz schön übel, nicht auf unserem Stand der Erkenntnis gewesen zu sein. Das hätten sie doch eigentlich irgendwie wissen müssen? Wir stürzen sie buchstäblich vom Sockel, streichen oder ändern in ihren Werken und machen deutlich, dass sie unseren Respekt verloren haben.
Die Guten, daran hat sich durch alle Zeit hindurch nichts geändert, die Guten sind wir, immer auf dem Gipfel der Erkenntnis. Die Bösen wandeln sich im Lauf der Zeit.
Es ist eigentlich nicht damit zu rechnen, dass wir aus irgendeinem Grund, von dem wir jetzt nicht das geringste ahnen, im Bewusstsein der folgenden Generationen die Bösen sein werden, oder?
Glücksfaktor: Das Kopfschütteln. Es gibt so ein überlegenes Gefühl …
2 Antworten zu “Wir befinden uns derzeit auf dem Gipfel der Erkenntnis”
Sehr kluger Beitrag, liebe Dagmar.
Raffiniert auch, wie dein Blick in die Historie die aktuelle Intoleranz gewisser Kreise entlarvt. Sendungsbewusstsein plus Selbstgerechtigkeit sind eine toxische Mischung und leider überhaupt nicht vom Aussterben bedroht. Ganz im Gegenteil.
Dankeschön, Angela!