Es war einmal eine alte, sehr hässliche, aber kluge Hexe, die wurschtelte an einem windigen Herbsttag in ihrem Garten herum. Sie erntete die letzten Äpfel, um sie einzukochen. Im Übrigen taten ihr die Füße weh, ihr Kreuz schmerzte und sie freute sich darauf, wenn sie mit der Arbeit fertig war, einen guten heißen Tee zu trinken und eine Folge ihrer Lieblingsserie auf Netflix zu genießen.
Wer kam da? Eine schöne Prinzessin.

Die Hexe unterdrückte ein Seufzen (Kundschaft ist Kundschaft), bat das holde Kind ins Haus und setzte sie auf ihren Besucherstuhl.
Die Prinzessin blickte mit zusammengebissenen Zähnen, verschränkten Händen und zusammengezogenen Augenbrauen aus dem Fenster in den düsteren Tag. Schließlich äußerte sie: „Ich brauche einen Trank!“
„Gewiss. Das dachte ich mir. Wofür denn? Oder wogegen? Wo tut’s denn weh?“
Die Hexe erfuhr, dass die Prinzessin mit ihrem Prinzen Stress hatte. Bis vor Kurzem war alles wunderbar gewesen. Na ja, nicht alles, aber so im Großen und Ganzen … Aber neuerdings benahm er sich nicht mehr wie ein Märchenprinz, sondern wie ein Wildschwein, ein männliches.
„Inwiefern?“
Jetzt kam eine ganze Menge ‚Und da hat er gesagt‘ „Und da hab ich gesagt“ „Und da hatte er die Stirn, zu sagen – !“
„Liebst du ihn?“, fragte die Hexe.
„Ja, doch …“
„Liebt er dich?“
„Bestimmt.“
„Zeig mir mal ein Bild!“
Die Prinzessin holte ihr Smartphone aus der Tasche und zeigte den Prinzen.
„Der hat ja sogar ein Grübchen im Kinn. Wer so reizend ist, der darf sich auch mal daneben benehmen“, sagte die Hexe. „Pass auf, was du mir da alles erzählt hast, ist doch ganz unwichtig!“
Die Prinzessin schnaubte, Sie fing wieder an mit „Aber er hat gesagt – und da hab ich geantwortet – und da hat er …“
„Ach, Quatsch“, sagte die Hexe. „Hör doch auf. Ich bin verschiedentlich verheiratet gewesen, ob du’s glaubst oder nicht. Unter anderem mit dem wunderbarsten Mann der Welt, voller Intelligenz, Witz und Charme. Das prachtvollste Lebewesen, das mir je unter die Augen kam und ein Raubtier. Glaubst du, der war immer ein Lämmchen? Nein, war er nicht. Er hat sich manchmal benommen wie ein … Also sehr interessant. Na und? Deshalb war er immer noch der wunderbarste Mann der Welt. Und ich war ständig verliebt in ihn. Ich konnte gar nicht anders. Das erleichtert es, auf jemanden nicht böse zu sein, weißt du.“
„Aber wie konntest du noch verliebt in ihn sein, wenn er sich so benommen hat?“
„Weil das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Pass auf, ich will es dir mal so erklären – stell dir vor, du siehst einen neuen Film. Manchmal weiß man ja genau, was das ist und worum es geht, aber hin und wieder kommst du an einen Film und hast erst mal keinen Schimmer, ob das nun eine Komödie ist oder ein Krimi oder ein Drama. Und gleich von Anfang an verguckst du dich total in den Hauptdarsteller. Er ist hundertpro dein Typ, die Art zu gucken, die Bewegungen, die Stimme, die Art, wie er sein Haar zurückschmeißt – du bist hin und weg. Alle diese sichtbaren Attribute vermitteln ja nur, wie er innerlich ist – seine Verträumtheit, seine Klugheit, vielleicht seinen liebenswerten Trotz und seine Frechheit. Und du persönlich bist davon gefangen, weil es das ist, was du suchst. Das spielt sich ganz in der Tiefe ab, deine Seele erkennt seine Seele. Deine Freundin würde vielleicht nur sagen: Ja, nett … Du sitzt sabbernd da und nimmst dir vor, gleich, wenn der Film zuende ist, zu googeln, wer dieser Darsteller ist. Dann stellt sich nach und nach raus, er ist leider der Böse. In seiner Freizeit röstet er kleine Kinder, er wird den dritten Weltkrieg verursachen und James Bond killen. Scheißrolle, denkst du. Aber egal – der Schauspieler ist ein Traum! Sieh das mal so mit deinem Kerl. Wenn er manchmal miese Rollen spielt, bleibt er doch trotzdem immer dein Märchenprinz.“
„Jaaa …“, sagte die Prinzessin zögernd. „Schon. Aber – diese Sache! Wie konnte er …“
„Ach, Sache, Sache!“, brummte die Hexe. „Das hat was mit Perspektive zu tun. Wenn irgendwas direkt vor deinem Schnäuzchen ist, dann kommt es dir riesig vor, Wenn du zurücktrittst, wird es kleiner. Und wenn du weiter weg gehst, dann wird es zum Fliegenschiss. Verhak dich nicht in solchem Mist. Du hast einen großartigen Mann an deiner Seite …“
„Woher weißt du das? Woher weißt du, dass er großartig ist?“, fragte die Prinzessin misstrauisch.
„Wenn ich das nicht wüsste, hätte ich meinen Beruf verfehlt. Er ist phantastisch, er hat ein Grübchen im Kinn, er liebt dich und du liebst ihn. DAS ist wichtig. Das ist überhaupt das einzig Wichtige. Du solltest dir nicht über deine Grenzen trampeln lassen – aber das hat er doch gar nicht getan. Ihr redet über Prinzipien. Sprecht über Liebe. Küsst euch. Geht ins Bett, solange ihr noch eins habt. Und das am besten gleich! Streiten kann jeder, das ist billig. Übt euch darin, glücklich miteinander zu sein, das ist ein Kunststück, das nicht jeder beherrscht.“
Die Prinzessin nickte nachdenklich, bedankte sich, zahlte und ging. Die Hexe konnte beobachten, dass sie, bevor sie losfuhr, erstmal eine Menge Text in ihr Smartphone eingab, auf Antwort wartete – und dann lächelte. Jetzt sah sie viel entspannter aus. Sie war wirklich eine besonders schöne Prinzessin.
Die Hexe realisierte, dass es inzwischen draußen zu dunkel wurde, um die restlichen Äpfel zu pflücken. Sie lächelte ebenfalls, als sie in die Küche schlurfte, um sich endlich Tee zu kochen …
Glücksfaktor: Lebenserfahrung. Unmöglich, ohne zu altern.