Heute morgen hörte ich in den Nachrichten – und las es später im Internet – das Bundesgesundheitsministerium hege neuerdings Zweifel an der Zweckmäßigkeit von Zahnspangen.
Ach?
Solche Zweifel hegte ich schon vor fast dreißig Jahren. Damals war mein Sohn zwölf, und das drohende Schicksal trat in sein Leben in Gestalt eines schmächtigen, bebrillten Mannes im weißen Kittel. ‚Alle anderen Kinder‘ trugen bereits das Geschirr im Mund und der Schulzahnarzt fand auf der Stelle heraus, Arne benötige ebenfalls ganz dringend so ein Ding.
Ich begleitete ihn ungern zum Kieferorthopäden. Der tauchte in Arnes Mundhöhle unter und kam mit folgender Weisheit zurück: wenn dem Kind nicht innerhalb des nächsten Vierteljahres 4 (vier) Backenzähne gezogen würden und er die nächsten drei bis vier Jahre eine Zahnklammer trüge, dann hätte er im Erwachsenenalter unter täglichen, schier unerträglichen Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen zu leiden. Weil nämlich der Kieferknochen – und die Weisheitszähne – und überhaupt …
Harmoniesucht gehört nicht zu meinen Schwächen und ich wollte gerade etwas Ausdrucksvolles erwidern, als mein Kind mir Zeichen machte, bitte den Mund zu halten. Auf der Heimfahrt zählte Arne noch einmal auf, wer in seiner Klasse eine Zahnklammer trug. Wir hätten die Sache zeitsparender erledigen können mit der Aufzählung der drei bis vier Personen ohne Zahnspange.
Wir kauften einen hübschen bunten Plastikbehälter für die knappen Momente, in denen der Zahndraht mal nicht in Arnes Mund sitzen würde. Und Reinigungsmittel. Zunächst sollte der hübsche bunte Plastikbehälter allerdings leer bleiben, denn am Anfang hatte Arne seine blitzende silberne Trense Tag und Nacht zu tragen, einige Monate lang.
Nun gehörte mein Sohn dazu. Er war einer von allen.
Bereits am frühen Abend stöhnte er immer wieder, unwillkürlich. Die Zahnspange tat weh. Das hatte der Kieferorthopäde übrigens angekündigt und Schmerzpillen dazu geliefert. Ich las den Beipackzettel und war begeistert. Zwar hätte ich meinem Sohn jederzeit eine Niere gespendet. Ich sah nur nicht ganz ein, dass er sich die bereits ruinieren sollte, bevor er die Pubertät hinter sich hatte.
Gegen neun saß Arne auf seinem Bett und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er wollte nichts essen. Er verweigerte sogar Eis. An dieser Stelle begann ich, mir sehr ernsthaft Sorgen zu machen.
Gegen zehn konnte er noch nicht schlafen und bat um eine weitere Schmerzpille.
Da ergriff mich heiliger Zorn. Ich sagte: „Pass auf, es gibt ganz genau zwei Möglichkeiten. Entweder fahren wir morgen früh vor der Schule zu diesem Kerl im weißen Kittel, damit er dir das verdammte Ding auf der Stelle entfernt. Oder ich gehe jetzt in den Keller, hole die Rosenschere und schneide es selber raus!“
Das traute er mir glatt zu (er kannte mich ja) und entschied sich für die erste Möglichkeit. Der Doktor handelte nach meinem Wunsch, wenn auch unter Protest, und bekam doch noch zu hören, was ich von seinen Zukunftsprophezeihungen hielt.
Arne wird in diesem Herbst 40. Soviel ich weiß, sind seine Backenzähne soweit glücklich und froh, er leidet weder an Gleichgewichtsstörungen noch an Kopfschmerzen.
Glücksfaktor: Keine Angst vorm weißen Kittel …