Zeitlos


Im vorletzten Jahrhundert bekam oft ein Jüngling an der Schwelle zum Mann – vielleicht nach der Konfirmation – eine Taschenuhr geschenkt. Möglicherweise ein Familien-Erbstück, vom Vater oder Großvater. Die Uhr war an einer Kette befestigt und die Kette am Westenknopf. Sie hing in einer Schlaufe seitlich über dem Bauch. Mit dieser Uhrkette ließ sich spielen, ganz nebenbei, so beim Nachdenken. Dadurch konnte man unauffällig darauf hinweisen, dass man so was Kostbares und Feines wie eine Taschenuhr besaß …

Nach den beiden Weltkriegen ersetzten Armbanduhren immer häufiger die Taschenuhr. Soldaten an der Front hatten die Hände mit Wichtigerem voll, beispielsweise ihrem Gewehr. Sie konnten nicht erst lange an der Uhrkette herumfummeln, wenn es darum ging, sofort zu wissen, wie spät es war und wann der Angriff erfolgen sollte. Sie konnten eben gerade den linken Ärmel zurückschütteln.

Jetzt erhielten Heranwachsende also eine eigene Armbanduhr, im besten Fall eine ‚goldene‘. Mit dem zwanzigsten Jahrhundert gab es überhaupt immer mehr Uhren. Auch öffentliche. Sie wuchsen aus Hauswänden und standen auf Marktplätzen am Stengel. Befanden sie sich in einer Säule und hatten sie rundherum vier verglaste Zifferblätter, dann hießen sie ‚Normaluhr‘, weil sie die 1893 im deutschen Reich eingeführte sogenannte Normalzeit anzeigten. Darunter trafen sich gern junge Liebespaare. Auf diese Art konnte man ganz genau sehen, wer pünktlich war und wer warten ließ.

Man durfte aber auch, falls keine Normaluhr oder Standuhr in der Nähe war, jederzeit einen Vorbeigehenden fragen: „Ach Entschuldigung, wie spät ist es bitte?“ Dann machte der eine kurze, energische Bewegung mit dem linken Arm, bog den Ellbogen scharf zur Seite, so dass sein Ärmel zurückgezogen wurde, blickte aufs Handgelenk und antwortete: „Viertel zwölf …“

Ich hab den größten Teil meines Lebens Armbanduhren getragen. Zuerst eine, die zwischen Daumen und Zeigefinger aufgezogen werden musste, hin und her, mit einem knirschenden kleinen Geräusch: immer abends, vor dem Schlafengehen. Später, neu und schick, eine Uhr mit Batterie!

Vor fast zwanzig Jahren sagte jemand zu mir: „Menschen wie Sie dürfen doch keine Quarzuhr tragen! Dazu sind Sie viel zu sensibel, das schadet Ihrer Schwingung …“ Ich wusste nicht, ob es meiner Schwingung wirklich schadete, aber ich guckte mir daraufhin die Alternativen an und verliebte mich so, dass ich nur noch Automatikuhren trug, besonders große, mit altmodischem Zifferblatt und Datumsanzeige und eventuell Mondstand. Automatikuhren werden aufgezogen durch die natürliche Bewegung des Trägers. Sie sind meistens ziemlich teuer und ich mag eigentlich teure Sachen nicht, aber die Uhren waren es mir wert, weil sie schön sind und weil ich schönheitsdurstig bin.

Irgendwann fiel mir auf, dass immer weniger Menschen Armbanduhren trugen. Gleichzeitig verminderten sich die öffentlichen Uhren. Erklärung: Hat doch sowieso jeder ein Handy bei sich! Nun braucht man, um ein Handy rauszukramen, ungefähr ebenso lange, wenn nicht länger, als es damals dauerte, eine Taschenuhr hervor zu ziehen. Andererseits muss keiner sein Handy rauskramen. Das hält er sowieso gerade vor der Nase, unter dem Kinn oder am Ohr.

Ich schleppe zwar mein Handy keineswegs dauernd mit mir herum (was Leute ärgert, die mich schnell erreichen wollen), aber ich trage auch keine Armbanduhr mehr, seit fünf oder sechs Jahren. Eigentlich weiß ich nicht, wieso. Nachdem die letzte kaputt war (Automatikuhren sind nicht nur teuer, sondern auch empfindlich und nicht übertrieben langlebig), wollte ich keine neue mehr. Ich kann auch raten, wie spät es ist.

Trotzdem fand ich es merkwürdig, dass Uhren immer mehr aus dem Straßenbild verschwinden. Die Zeit war doch nicht unwichtiger geworden?

Nun ist sie gerade ganz stehengeblieben. Für viele Menschen, weltweit, gibt es keine Bürozeit mehr, keinen Feierabend, keine Shoppingzeiten (Unser Geschäft ist von 9:00 bis 20:00 geöffnet), keine Sperrstunde, keine Rush Hour und keine Happy Hour. Zeit ist irgendwie zeitlos geworden …

Glücksfaktor: Zeit ist immer. Auch, wenn wir sie nicht messen und nicht nutzen.

 

 

 


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