Zufälle – oder wie es kam, dass Heidi Honigbiene gerettet wurde


Bis vor Kurzem hatten wir ein Fliegengitter vor unserem Küchenfenster. Vor ungefähr zwei Wochen schälte ich gerade Äpfel, als es an diesem Gitter leise, aber nachdrücklich ‚Klong‘ machte. Ich blickte auf, bemerkte Gezappel, trat näher und erkannte ein größeres, schlankes Insekt (vielleicht 4 Zentimeter lang), das ein anderes, kleines, Dickes zwischen dem Fliegengitter und seinem eigenen Körper eingeklemmt hatte und festhielt, obwohl der kleine Dicke wild strampelte und  deutlich Einwände hatte.

Wer waren die beiden und was war ihr Problem? Ich fand es nicht heraus, weil der große Schlanke bald darauf wieder wegflog, den anderen eisern festhaltend. Ich hätte jedoch sowieso nicht eingreifen können – wegen des Fliegengitters, das uns trennte.

Vor einigen Tagen hat der Löwe das Fliegengitter entfernt, weil er ein anderes anbringen will. Das ist nicht schlimm, weil wir ein zweites Küchenfenster haben, durch das wir lüften können.

WENN der Löwe dieses Gitter nicht entfernt hätte …

WENN er sofort das andere angebracht hätte …

Doch es stellte sich heraus, das gekaufte war ungeeignet, weil für Fenster gedacht, die sich nach außen öffneten. Insofern blieb das größere Küchenfenster ein Weilchen ohne Fliegengitter.

Vor einigen Tagen konnte ich nachts vor Husten nicht schlafen.

Ich huste, seit ich vor inzwischen zweieinhalb Jahren Corona hatte, und es scheint manchmal schlimm zu sein und manchmal schlimmer. Ja, danke, ich war nicht nur beim Arzt, sondern bei vier Ärzten. Bei einem ‚praktischen‘ Arzt, einem Internisten, in der Regio-Klinik Elmshorn (nahezu ein – übrigens brüllend heißer – ganzer Tag voll der interessantesten unterschiedlichen Untersuchungen) und bei einem Lungenfacharzt in Pinneberg, ebenfalls sehr unterhaltsam und abwechslungsreich. Herausgefunden wurde:

Ich besitze hervorragende Blutwerte

Meine Lunge ist im Prinzip eine musterhafte solche, obwohl sie Nebengeräusche zeigt

Ich habe auf keinen Fall Lungenkrebs

Und ebensowenig TBC.

Das alles ist tröstlich. Indessen huste ich wirklich schrecklich. 

Der praktische Arzt empfahl Hustentee.

Der Internist meinte, ich hätte eine vierwöchige Kur an der Nordsee dringend nötig. (Finde ich auch.)

Der Doktor in der Regio-Klinik erklärte, ich sollte morgens und abends Codein-Tropfen nehmen, um das Nervengefüge in der Lunge zu beruhigen.

Der Lungenfacharzt fand, ich müsste mich  auf jeden Fall so bald wie möglich ein viertes Mal gegen Corona und darüber hinaus gegen jede mögliche Art von Grippe impfen lassen. Als ich ihm antwortete, dass es mir nach dem Boostern bedeutend schlechter ging, verlor er auf der Stelle seine Sympathie für mich. Das hat ja nicht nur mit Gesundheit zu tun, sondern auch mit Weltanschauung. 

Die vierwöchige Kur übrigens hat man mir nicht gestattet, Begründung: Ich bin zu gesund.

Inzwischen hab ich mich auch ziemlich an meinen Husten gewöhnt. Nur, wenn es nachts so schlimm wird, dass ich nicht mehr liegen, sondern nur aufrecht sitzen kann, und wenn ich jedes Mal beim Einschlafen durch die  tieferen Atemzüge wieder loshuste – dann wandere ich ganz gern umher. Schon, um den Löwen nicht zu wecken. Es ist ja auch nicht jede Nacht so gewaltig. Manchmal kann ich mehrere Stunden durchschlafen.

WENN ich an diesem Morgen also nicht bereits um fünf aufgestanden wäre …

Ich saß am Küchentisch und betrachtete durch das fliegengitterlose Fenster den Sonnenaufgang, Orangensaft über dem Himmel, goldene Sprengsel, dann die Sonne selbst wie ein feuriger rotgelber Luftballon – und dann bemerkte ich schon wieder Gestrampel, diesmal oben links im Fensterrahmen. 

Da hing jemand in einem Spinnennetz fest. Ich stand auf, um die Sache aus der Nähe zu betrachten und erkannte Heidi, die Honigbiene.

Wie hätte ich reagiert, falls es Wilma, die Wespe gewesen wäre?

Wo fängt Rassismus an? Ich gebe zu, dass ich keineswegs neutral bin. Bienen sind mit schlicht sympatischer. Sie tragen nicht so übertrieben geschnürte Mieder und keinen aggessiv glänzenden Unterleibspanzer, sondern stattdessen treuherzige Plüschhöschen. Sie sind Vegetarierer. Und vor allem: Sie neigen in keiner Weise dazu, Menschen unverschämt und schlecht  erzogen zu belästigen. Oh, mir ist bewusst, dass Wespen ebenso Kinder der Schöpfung sind und notwendig für unser biologisches Gefüge. Trotzdem hätte ich vermutlich Mutter Natur sich selbst überlassen, wenn eine Wespe im Netz der ebenso wichtigen und schützenswerten Spinne festgesessen hätte. Guten Appetit.

WENN ich also nicht so parteiisch gewesen wäre …

Aber nun steigerte sich die Hintergrundmusik zu einem bedrohlichen, unheimlichen Rhythmus, und aus dem Winkel des Fensters krabbelte sie emsig auf die zappelnde Heidi zu, vermutlich, um sie zu betäuben und noch fester einzuwickeln: Susi Spinne.

WENN ich nicht sofort das Fenster geöffnet hätte … (Normalerweise wäre das nicht so schnell möglich gewesen. Nur, weil der Löwe ja, nicht wahr, ein neues Fliegengitter anbringen wollte und deshalb alle Deko plus Obstschüsseln und Tomatenkörbchen vom Fensterbrett entfernt waren, klappte es innerhalb einer Sekunde.)

Susi Spinne – husch! Wieder zurück nach links oben. Heidi strampelt und kommt nicht los.

WENN das große Teesieb nicht auf der Spüle gelegen hätte …

Damit angelte ich Heidi aus dem Netz und legte sie auf der Fensterbank ab. Falls sie Stärkung benötigte, stellte ich ein Näpfchen mit einem Tropfen Honig daneben.

Heidi brauchte eine gute Stunde, bis sie mit Hilfe aller sechs Beinchen überall klebrige Netzteile von ihren Beinen, den Fühlern, den Flügeln entfernt hatte.

Ob sie sich noch etwas Honig genehmigt hat, weiß ich nicht. Ihr endlicher Abflug entging uns, weil der inzwischen aufgewachte Löwe und ich frühstückten.

Auf jeden Fall kam Heidi frei und konnte sich ihren Aufgaben widmen oder zum Bienenstock zurückfliegen und vortanzen, was ihr alles passiert war.

Glücksfaktor: Man weiß nie, wozu etwas gut ist. Beispielsweise kann nächtlicher Husten, der am Schlafen hindert, durchaus Leben retten. Und ganz egal, wie klein es ist: Für den Träger dieses Lebens ist es einmalig.

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