Brüllbaby


Es gibt solche. Sie brüllen nicht nur ab und zu oder meistens, sondern IMMER, außer, sie schlafen ein bisschen oder trinken.

Ich hatte eins.

Mein kleiner Sohn brüllte ununterbrochen. Ich brauchte nie nachzugucken, ob er schlief oder wo er gerade steckte. Beides konnte man jederzeit deutlich hören. Er wachte mit einem Schrei auf, grundsätzlich. Ich wurde gefragt, ob ich eine traumatische Schwangerschaft gehabt hätte oder eine schreckliche Geburt. Beides nein, im Gegenteil.

Jeder spendete großzügig seinen Senf dazu. Gern auch Menschen, die selber keine Kinder hatten. Unsere Nachbarn betrachteten ihn respektvoll, als er gerade mal schlafend im Kinderwagen lag und flüsterten: „So ein winziges Wesen und so eine Resonanz!“

Unglücklicherweise  benötigte er wenig Schlaf, deutlich weniger als wir. Schlief er wirklich mal, dann war es mucksmäuschenstill in der Wohnung, kein Grashalm bewegte sich. Bloß nicht die köstliche Stille stören – bevor er wieder aufwachte.

Ich ließ ihn beim Einkaufen meistens vor dem Laden. Ich hätte ja sofort gemerkt, wenn ihn jemand klauen wollte. Und übrigens wäre derjenige wohl bescheuert gewesen. Dann kam auch mal eine Kundin oder ein Kunde rein und  teilte mir mit: „Ihr Kind schreit da draußen!“

Ach was?

Die allgemeine Ansicht ging dahin, dass ich auf jeden Fall was falsch machte. Viele Menschen, auch meine Mutter, rieten mir, den Bengel doch einfach schreien zu lassen: „Wenn er merkt, dass er keine Reaktion erzielt, wird er schon aufhören!“

Ich schaffte es einmal, ein einziges Mal, ihn zwanzig Minuten lang schreien zu lassen, während ich mir die Fingerknöchel zerkaute. Es hörte sich an, als ob er mit Drachen kämpfte. Dann stürzte ich ins Kinderzimmer und nahm ihn in den Arm, zog ihn aus, weil er völlig nassgeschwitzt war, trocknete ihn ab, zog ihm neue Sachen an. Er schluchzte immer noch empört, kaum mehr Stimme im Hals. Die wuchs allerdings bald nach.

Er verbrüllte seine gesamte Taufe, niemand ahnte, was der Pastor hatte sagen wollen.

Das dauerte viele Monate. Ich nahm ab und sah ziemlich verhärmt aus. Aber nie war ich ihm böse, was mich selber wunderte. Meine Gefühle waren kummervoll, doch ohne jede Aggression. Trotz allem war er ja unendlich süß. Ich wäre jederzeit für ihn gestorben. Hatte allerdings das Gefühl, ich sei langsam schon dabei.

Bewegung war ganz hilfreich, rumtragen oder rumfahren. Bei Stillstand ging sofort wieder die Sirene an. Ich war ununterbrochen auf Achse, schleppte den Kleinen notfalls stundenlang durch die Wohnung, von Zimmer zu Zimmer. Fuhr auch bei Schneesturm (das war ein happiger Winter) mit dem Kinderwagen herum, Plastikplane vor dem Baby, Kapuze auf dem Kopf.

Einmal sprach mich auf der Straße eine Frau an. „Klingt Ihr Kind immer so?“, fragte sie.

Ich nickte und wappnete mich gegen die üblichen guten Ratschläge, wie: Verwöhnen Sie ihn nicht so! Schreien ist gut für die Lungen. Wenn man überhaupt nicht reagiert, dann …

Aber sie sagte: „Ich will Ihnen was erzählen. Ich habe drei prachtvolle Söhne, alle drei erwachsen inzwischen. Alle drei waren Brüllbabys bis zum sechsten, siebten Monat. Und von da ab die besten Kinder, die man sich nur vorstellen kann. Jeder einzelne. Es gibt keine feineren Söhne. Haben mir noch nie den kleinsten Kummer bereitet. Solche kleinen Schreimaschinen werden später die bravsten Kinder und die wunderbarsten Menschen. Warten Sie in Ruhe ab, bis er von selber aufhört!“

Ob das stimmte oder nicht – es tat mir über alle Maßen wohl. Ich war fast zu Tränen gerührt, kurz davor, die wildfremde Frau zu umarmen.

Ich hab’s nie vergessen und es half mir über die letzten lauten Monate hinweg.

Eines Tages klappte mein Sohn den Mund zu und entwickelte sich innerhalb weniger Wochen von einem rotgesichtigen, zerknautschten, wütenden kleinen Geschöpf zu einem wahren Prinzen, liebevoll, hilfsbereit, rücksichtsvoll, immer gut gelaunt.

Was er auf den Tod nicht ausstehen konnte, war Lärm.

Das ging so weit, dass er mit ungefähr vier Jahren, als ich mal mit erhobener Stimme sprach, anregte: „Mami, kannst du mich nicht bitte lieber hauen anstatt zu schreien?“

War jedoch beides gar nicht nötig. Mein Sohn wirkte wie von Engeln erzogen. Meine Freundinnen, Mütter ganz normaler Kinder, fragten mich, mit welcher Methode ich ihn eigentlich dressierte – ob ich ihn nachts im Keller mit der Maultierpeitschte züchtigte?

Es sah so aus, als fände er es einfach angenehm, lieb zu sein. Fast unheimlich. Hatte nie eine Rotznase, wie auch immer er das anstellte. Bat vor dem Essen mit seiner zarten Stimme um ein Lätzchen, damit er sich den Mund abwischen konnte nach jedem Bissen. Sagte ständig Danke und Bitte. Sein Vater begann zu zweifeln, ob genügend Testosteron in dem Jungen vorhanden wäre.

„Warte, bis er ins Trotzalter kommt!“, versprach man mir.

Fand bei ihm jedoch nicht statt.

„Aber in der Pubertät wird es schwierig!“, lautete die nächste Verheißung.

Außer, dass er dazu neigte, in seinem Zimmer Gläser oder leere Wasserflaschen zu sammeln, anstatt sie in die Küche zu bringen, konnte ich wieder kein Zeichen der Rebellion entdecken.

Er war der einzige 12 – 14 -jährige weit und breit, der seine Mutter öffentlich küsste. „Ist dir das nicht peinlich?“, fragte ich.

„Nein, wieso? Ich bin doch stolz auf dich!“ antwortete er entrüstet.

Er kaufte von seinem Taschengeld Bonbons für mich, die er auf meine Tastatur legte. Er machte mir (von klein auf!) die reizensten Komplimente.

Seit er ungefähr sechs war begann er, mich zu beschützen und zu verteidigen, wenn er das für nötig hielt oder mir ’schwere Sachen‘ abzunehmen und für mich zu tragen.

Irgendwann wurde er riesengroß und kantig und behaart, aber er blieb stets ein lieber, bezaubernder Sohn. Zumindest in den vergangenen 39 Jahren. Vielleicht kommt er ja noch irgendwann ins Trotzalter?  

Es scheint zu stimmen: Brüllbabys werden, wenn sie ausgebrüllt haben, besonders lieb.

Mein Sohn war bereits ein enormer Glücksfaktor, solange er noch schrie. Und hinterher erst recht!

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Söhnchen!

 

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2 Antworten zu “Brüllbaby”

  1. Liebe Dagmar, deine Texte, vor allem die persönlichen, sind zauberhaft. Mein Sohn hat nächste Woche Geburtstag, ist ebenfalls riesengroß und behaart. Wir schätzen uns sehr, auch wenn wir uns das eher nur in cooler Weise mitteilen. LG Angela

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