Nachtrag zum Tag der ersten Liebe: Schwarzes Mädchen, weiße Maus


Schwarzes Mädchen, weiße Maus

Das ist lange her – damals fuhr in Hamburg noch eine Straßenbahn, so weit liegt das zurück.

In der Straßenbahn sah ich Till zum ersten Mal. Und dann jeden Morgen, wir mussten wohl um die gleiche Zeit zum Grindelberg.

Ich putzte in einer Wohnung am Innocentiapark.

Irgendwann wurde mir klar, dass wir beide in Niendorf wohnten. Eine Weile später erfuhr ich, dass er Medizin studierte. Ich saß hinter ihm, als er sich mit einem Kommilitonen unterhielt.

Zuerst empfand ich nur so ein vages Interesse, ich fand ihn hübsch, aber nicht sympathisch: zu unsicher und zu arrogant, was meiner Ansicht nach häufig zusammentrifft.

Ich kämpfte meistens mit Müdigkeit, weil ich auch nachts gearbeitet hatte; da kellnerte ich häufig in einer Kneipe in Winterhude, und zwar illegal, denn ich war minderjährig.

Damals musste man einundzwanzig sein, um einigermaßen über sich selbst bestimmen zu dürfen.

Eines Abends kam Till in diese Kneipe, ‚Waffelhut’ hieß sie. Er bestellte bei mir ein Alsterwasser und als ich es ihm brachte, sagte er: „Kennen wir uns eigentlich irgendwoher?“

„Ja. Wir fahren morgens meistens zusammen in der Linie 2“, antwortete ich. Daraufhin saß er eine Weile buchstäblich mit offenem Mund da.

Ich weiß nicht, ob er mein Gesicht wirklich registriert hatte und deshalb fragte, oder ob es sich um einen gewöhnlichen Anmach-Spruch handelte. Auf jeden Fall war der Dialog damit beendet.

Ich hatte zu tun und er unterhielt sich mit Freunden.

Allmählich kam ich zu dem Schluss, er sei ein bisschen dümmlich, Studium hin oder her.

Meine Nana, meine Großmutter, hatte einen Arzt, der sich nie merken konnte, wo bei uns das Badezimmer war; er verlief sich regelmäßig in der kleinen Wohnung, wenn er sich nach der Untersuchung die Hände waschen wollte.

Dann kamen die Semesterferien, was bedeutete, ich sah Till nicht mehr und dachte auch nicht an ihn.

Im September, an einem Samstag, kaufte ich die Rundfunkzeitschrift in einem kleinen Tabakladen bei uns um die Ecke und bemerkte plötzlich diesen Medizinstudenten, der in einem Autoheft blätterte.

Er stand zufällig so, dass die milde Herbstsonne durch das Schaufenster direkt auf sein kastanienbraunes Haar fiel und sein Halbprofil perfekt ausleuchtete. Er sah niederschmetternd schön aus, absolut vollkommen, ich stand da und glotzte ihn an und überhörte, als der Tabakhändler, Herr Lewandrowski, mich fragte, was ich haben wollte, bis er mich regelrecht anbrüllte.

Dadurch wurde Till auch aufmerksam.

Er erkannte mich und grüßte und lächelte.

Bei Menschen, die normalerweise zurückhaltend und kühl sind, wirkt es meist verheerend, wenn sie mal lächeln: man fühlt sich, absurderweise, so geehrt.

Später erzählte Till mir, der alte Lewandrowski hätte ihn anschließend gewarnt, sich mit diesem schwarzen Mädchen einzulassen. Er meinte, ich sei ‚frech’, wie auch immer er zu dieser Ansicht kam. Da er selber ein scheußlicher, unhöflicher alter Grummelkopf war, hatte ich ihn vielleicht mal zurechtgewiesen.

Übrigens, um das wertfrei festzuhalten, ich bin keineswegs schwarz. Mein Haar – ja. Und meine Augen sind so dunkel, dass ich selbst im Spiegel manchmal nicht sehen kann, wo die Iris aufhört und die Pupille anfängt. Aber meine Haut ist höchstens brünett, im Winter sogar richtig weiß. Ich hab mal in einer Schulaufführung das Schneewittchen gemacht, nicht weil ich so talentiert war, nur wegen meiner Farben.

Auch mich sprach der blöde Tabakhändler bald darauf an, als ich Stumpen für die Nana kaufte. Er knurrte: „Lassen Sie den Studenten in Ruhe. Das ist ein Aristokrat, mit dem sollten Sie nichts zu schaffen haben, der ist nichts für Sie.“ Anschließend wollte er mich noch mit dem Wechselgeld behumpsen, aber ich passte auf.

Jedenfalls halfen seine Warnungen nichts mehr. Ein paar Wochen später waren Till und ich ein Paar.

Als kleines Mädchen hatte ich meiner Nana mal versprochen, bis zur Ehe reinzubleiben. Doch inzwischen war so viel passiert, es hatte die sexuelle Revolution gegeben und man konnte sich die Pille verschreiben lassen.

Der Student war tatsächlich ein Aristokrat, er hieß Till Hubertus Albrecht Freiherr von Glaas.

Kein besonderes Wunder, dass seine Mutter die Ansicht von Lewandrowski teilte, sobald sie von mir erfuhr und noch bevor sie mich persönlich kennen lernte.

Dabei wusste sie einstweilen ja nicht mal das Schlimmste.

Till hatte ich informiert und er fand es zunächst faszinierend, bat jedoch: „Erzähl das bloß nie meiner Mutter!“

Im November lud Frigga von Glaas mich zum Tee ein. Ich zog mein graues Kostüm an, steckte mein Haar so glatt und straff wie möglich auf und schminkte mich mit einem hellgelblichen Make-up so blass, dass ich ganz krank aussah.

Beim Klingeln an der Tür hatte ich weiche Knie. Till zitterte sogar, seine Hände flogen richtig, als er mir ein paar winzige Wollfusseln von der Schulter sammelte.

Frau von Glaas sah aus wie eine versteinerte Grace Kelly. Links und rechts neben ihren Mundwinkeln saßen kleine, scharfe Falten, die nicht so wirkten, als ob sie vom Lachen kämen. Till hatte mir erzählt, sie litte an der Galle und sie kam mir tatsächlich etwas gallig vor.

Sie hielt sich straff und gerade und war schlank wie ein Eiszapfen. Dabei hatte sie immerhin sechs Kinder geboren, Till war ihr Jüngster.

Er stellte mich seiner Mutter vor, sie nahm mir den Stiefmütterchenstrauß ab, reichte mir kurz die Hand und zog sie dann schnell wieder zurück.

Ihre Wohnung war ziemlich groß für eine einzige Person. Dafür konnte man sich vor lauter riesigen alten Möbeln kaum bewegen und an den Flurwänden drängelten sich Geweihe, die ich ungläubig anblinzelte.

Da sagte Frau von Glaas: „Ja, die hat Tills Vater alle selbst erlegt. Er war einer der treffsichersten Schützen aller Zeiten.“

Wir setzten uns an den gedeckten Tisch mit gefalteten Stoffservietten, auf die das Familienwappen gestickt war. Außer Tee gab’s Bienenstich, in so kleine Stücke geschnitten, dass eins fast für einen Mundvoll reichte. Selbstgebacken war er auch nicht. Dazu in einer Glasschale ungefähr acht dünne Kekse.

Mir wurde Tee eingegossen, dann kam die erste Frage: „Sie studieren nicht, habe ich gehört? Haben Sie denn überhaupt Abitur?“

„Nein. Ich bin in der zehnten Klasse abgegangen.“

„Warum denn das? Sie haben sich ja von vornherein eine vernünftige Laufbahn unmöglich gemacht!“

„Ich musste Geld verdienen“, sagte ich und nahm einen Schluck Tee.

„Da hätte sich doch sicher noch eine andere Lösung gefunden. Die Jugend ist immer so impulsiv… Und womit verdienen Sie nun Ihr Geld? Sind Sie in einer Ausbildung?“

Ich überlegte, ob ich vom Putzjob oder vom illegalen Servier-Job erzählen sollte und brummelte, ich wäre in der Gastronomie.

„Sie sind eine Waise, sagt mein Sohn?“

„Ich lebe bei meiner Großmutter. Sie ist meine einzige noch lebende Verwandte.“

„Immerhin. Das billige ich. So viele junge Mädchen wollen heutzutage unbedingt schon allein leben, das ist ja so modern – Sie sind siebzehn?“

„Achtzehn.“

Frau von Glaas zeigte mit ihrer langen, schmalen Hand auf die Platte mit den Bienenstichpartikeln. „Bitte, nehmen Sie, Sie brauchen ja nicht auf Ihre Linie zu achten, Sie wirken eher zu dünn. Haben Sie südländische oder orientalische Vorfahren? Ihre Augen sind derart schwarz – so dunkle Pigmente sind hierzulande unüblich.“

Ich schaute nicht in Tills Richtung, der nervös zu zappeln anfing.

Leider litt ich damals noch an ausgeprägtem Jähzorn, ich fühlte, wie die Wut dunkelrot in mir aufstieg und versuchte verzweifelt, sie zu zügeln. Es hätte mich sehr erleichtert, mit Tassen oder Tellern oder den dünnen Keksen zu werfen und die albernen Geweihe von der Wand zu reißen.

Ich schlug die Augen nieder und murmelte: „Meine Großmutter stammt – aus Ungarn, mehr oder weniger. Ursprünglich wohl aus Indien.“

Weil es so still blieb, sah ich schließlich auf. Till schüttelte leise den Kopf.

Seine Mutter zog die Augenbrauen zusammen und wiederholte: „Indien – ?!“

„Meine Großmutter ist Romni“, sagte ich kurz. Irgendwann würde die Dame es ja doch erfahren.

Die porzellanblauen Augen mir gegenüber wurden immer größer. „Wieso ist sie Romy?“

„Sie ist Zigeunerin“, erklärte ich und trank den heißen Rest aus meiner Tasse, wobei ich mich fast verschluckte. Nana selbst sprach immer nur von Zigeunern, nie von ‚Roma’.

Till schaute mit ärgerlicher Miene in eine der Zimmerecken. Seine Mutter strich sich selbst beruhigend über die Schläfen.

„Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst, oder? Ich meine – Sie leben doch nicht im bunten Wagen? Sie sind doch immerhin… ansässig?“

„Ja. Wir leben in einer Wohnung, ganz normal. Als meine Großmutter meinen Großvater geheiratet hat, ist sie von ihrer Familie sofort verstoßen worden. Das war ihr klar, das hat sie einkalkuliert. Sie hat die Familienehre getrübt, weil sie schon mit einem Verwandten verlobt war.“

„Oh.“ Frau von Glaas warf den Kopf zurück, kniff kurz den Mund zusammen und nickte vor sich hin. Sie sah so aus, als hätte sie gerade eine Beleidigung kassiert. „Ach so. Das hat Till ganz – hat er ganz vergessen zu erzählen. Dabei ist das doch nun wirklich interessant. Und wie… Ich meine – wovon lebt Ihre Großmutter? Legt sie Karten, liest sie aus der Hand? Spielt sie Geige oder so etwas?“

„Sie ist Rentnerin und sie spielt die Zither. Sie ist eine der treffsichersten Zitherspielerinnen aller Zeiten“, sagte ich schnippisch, denn jetzt war’s sowieso schon egal. Ich hätte auch erwähnen können, dass die Nana Stumpen rauchte. „Sie hat ein nervöses Kopfzucken aus der Zeit, als Großvater sie im Keller versteckt hat, vor dem Krieg schon, damit die Nazis sie nicht finden. Sie konnte sogar ungefähr ein Jahr lang nicht mehr sprechen. Aber als der Krieg endlich aus war, da konnte sie vor Freude jubeln und tanzen. Und da hat sie ihre Sprache wieder bekommen.“

Tills Mutter richtete sich gerade auf und durchbohrte mich mit ihren großen blauen Augen. Dann blickte sie auf ihre kleine Armbanduhr und sagte zu Till: „Das war nett, ein netter Besuch. Sehr interessant. Das müssen wir unbedingt bald mal wiederholen.“

Wir standen alle auf, gingen in den Flur und verabschiedeten uns. Diesmal gab mir Frau von Glaas nicht die Hand, sie nickte nur in meine Richtung, ohne mich anzusehen.

Unser Besuch hatte keine zwanzig Minuten gedauert. Die Kanne war praktisch noch voll mit heißem Tee.

Auf der Nachhausefahrt erzählte mir Till, dass seine Eltern sich im Mai 1945 verlobt hatten und immer noch an den Endsieg durch die Wunderwaffe glaubten. Als sie dann von der Kapitulation und Hitlers Selbstmord hörten, seien sie sich weinend in die Arme gefallen.

„Verstehst du? Es schmerzt sie, wenn du sagst, deine Großmutter hat vor Freude gejubelt und getanzt.“

„Ich hab bis jetzt immer gedacht, jeder hat sich gefreut, als der Krieg endlich vorbei war!“, sagte ich erstaunt.

„Für meine Eltern“, erklärte Till, „war der Krieg nicht vorbei. Für meine Eltern war der Krieg verloren.“

Till lebte in einem Labor, das seinem Onkel gehörte. Der Onkel war ebenfalls Mediziner, mit einer Apothekerin verheiratet und kinderlos. In den großen Altbauzimmern standen an den Wänden überall Regale voller Flaschen, Behälter, Glaszylinder und Aktenordner. Im hintersten Raum waren Käfige mit einem Gewusel von weißen Mäusen.

Till machte eine ganze Menge praktischer Arbeiten in diesem Labor, dafür durfte er umsonst wohnen und der Onkel bezahlte darüber hinaus sein Studium. Manchmal mussten kleine Ampullen gefüllt und mit einer besonderen Maschine zugeschweißt werden. Ich lernte, Till dabei zu helfen.

Außerdem hatte er die Mäuse zu pflegen, Das war ein Streitpunkt zwischen uns, einer von vielen. Ich liebte Tiere – er mochte sie nicht besonders.

Er musste den erwachsenen Mäusen Spritzen geben und er musste einige von ihnen töten. Das tat er, indem er sie im Klo runterspülte.

Ich protestierte und er fragte mich, ob ich es vorziehen würde, ihnen mit einer Papierschere den Kopf abzuschneiden?

Till ließ ungefähr dreihundert weiße Mäuse in fünf Käfigen, also etwa sechzig Tiere zusammengequetscht auf einer Fläche von 30 mal 60 Zentimetern. Und sie vermehrten sich ständig – viel mehr hatten sie ja nicht zu tun.

Es gab weitere Käfige, sauber gestapelt und unbenutzt in einem Nebenraum. Dazu hatte Till keine Lust: es hätte bedeutet, mehr Käfige zu säubern.

„Die regeln das unter sich“, sagte er.

Das taten sie wirklich. Sie entwickelten Kannibalismus. Sie fraßen vor allem die noch unbehaarten rosa Babys oder die Jungtiere.

„Sie sind von Natur aus Infantizid!“, behauptete Till. „Das funktioniert bei ihnen eben so. Für Onkel Albrechts Zwecke bleiben immer noch genug erwachsene Tiere am Leben. Damit du deine Puppenstubenideen ausleben kannst, müsste ich so viele Käfige aufstellen und reinigen und Mäuse streicheln und ihnen Namen geben und sie bei guter Laune halten, dass ich nicht mehr zum Studieren käme.“

Und er fügte hinzu: „Sauerbruch hat gesagt: ‚Vor der Wissenschaft hat das Mitleid zu schweigen’.“

Da klebte ich ihm zum ersten Mal eine.

Ich hätte lieber Sauerbruch eine gescheuert, aber der stand ja nicht zur Verfügung. Till war sehr beleidigt und später entschuldigte ich mich, wenn auch halbherzig.

Ich verbrachte sehr viel Zeit im Labor. Dabei arbeitete ich weiter als Putzkraft und als Kellnerin, wenn auch lieber tagsüber – meine Nächte gehörten zur Hälfte Till.

Spätestens um zwei Uhr morgens zog ich mich an und huschte leise hinaus, ohne ihn zu wecken. Er hatte mir einen Schlüssel machen lassen, einen sonderbar kantigen, der sowohl für das Haus- als auch für das Labortürschloss passte, und falls das sein Onkel je erfuhr, drohte uns beiden die Hinrichtung.

Wenn meine Nana mich so spät kommen hörte, sollte sie denken, ich käme aus dem Waffelhut. Falls sie es nicht glaubte, ließ sie es sich nicht anmerken.

Aber sie wollte Till gern kennen lernen.

Sie machte Marmorkuchen, Apfelschnitten und Schokoladenkekse und kochte dicken schwarzen Kaffee. Das Silberbesteck aus dem kleinen Lederkoffer schimmerte wie verrückt und schmeckte immer noch nach Putzmittel.

Meine Nana trug ihr gutes Dunkelrotes und lange silberne Ohrhänger – ebenfalls mit Putzmittel bearbeitet und entsprechend gleißend und glimmernd – und roch sehr energisch nach ‚Tosca’.

Till überreichte meiner Großmutter kleine rosa Rosen, zog seine Bügelfalten hoch und versank in unserem besten, viel zu weichen Sessel. Er stand tapfer anderthalb Stunden im überheizten Wohnzimmer durch, ohne sich anzubiedern: er lächelte kein einziges Mal und antwortete der Nana abwechselnd mürrisch oder sarkastisch.

„Dieser Mann ist nicht gut!“, sagte sie abschließend, als er gegangen war, ich den Tisch abdeckte und sie sich einen Stumpen anzündete. „Für niemand gut, schon gar nicht für dich. Er ist kalt und eitel und geizig. Und er hat Nazi-Augen!“

Till sagte über meine Nana nur, wenn er zufällig Epileptiker wäre, hätte er einen Krampfanfall bekommen vom ständigen Blinken ihrer Zigeuner-Ohrringe, durch ihr Kopfzucken verursacht.

Wir passten nicht zusammen. Tabakhändler Lewandrowski hatte es bemerkt, bevor es anfing. Till und ich fanden das im Grunde auch, sonst hätten wir uns nicht so oft und so leidenschaftlich gestritten. Wir trennten uns durchschnittlich alle zwei Wochen für immer und telefonierten anschließend so lange miteinander, bis ich zu ihm fuhr, damit wir uns kratzen und beißen konnten.

Ich denke oft, wenn wir nicht von außen ständig bearbeitet worden wären, hätten wir viel früher aufgegeben. Es war das Romeo-und-Julia-Syndrom, wir blieben aus Trotz zusammen.

Ich vertraute meiner Kellner-Kollegin Conchita an, dass ich Till heiraten wollte. Sie hatte ihn verschiedentlich gesehen und fand ihn ‚hübsch, aber irgendwie unangenehm’.

„Liebst du ihn so sehr?“ fragte sie erschrocken.

„Nein. Ich hasse seine Mutter so sehr. Es ist das Schlimmste, was ich ihr antun kann. Ihr wird die Galle platzen!“, sagte ich.

Das Dumme war, dass Till keineswegs heiraten wollte, schon gar nicht mit zweiundzwanzig und noch vor dem Physikum. Er sprach viel über dieses ‚überflüssige Stück Papier vom Staat’, das wir gar nicht brauchten. Er meinte, die Ehe sei eine verklärte und verkitschte Spießerangewohnheit. Es wäre viel geschmackvoller, einen Lebensgefährten oder Lebenspartner zu haben, eine erwachsene, intelligente, zwanglose Form der Partnerschaft.

„Und wenn Kinder kommen?“ fragte ich.

„Du nimmst doch die Pille!“, sagte er.

Anfangs stimmte das.

Um jedoch meinem angestrebten Ziel, Frigga von Glaas’ geplatzter Galle, näher zu kommen, holte ich mir ab Frühjahr kein Rezept mehr. Damals war eine Schwangerschaft tatsächlich noch ein nahezu zwingender Grund zum Heiraten, wenigstens unter kultivierten Menschen.

Im Mai war ich nicht ganz sicher, sagte aber noch nichts. Anfang Juni wollte ich gerade, Till gegenüber, auf meine Hoffnung zu sprechen kommen – als die Nana krank wurde.

Man schaffte sie in eine Klinik, man operierte sie, ich war sehr aufgewühlt und besuchte sie dauernd.

Bevor sie starb, sah sie mich mit ihren milchigen Augen, die früher so schwarz gewesen waren wie meine, durchdringend an, während sie ununterbrochen ein wenig mit dem Kopf nickte, und sagte: „Nicht – dieser – Mann!“

Es war ein regnerischer Abend, durch die dunklen Wolken wurde es früher Nacht, als es der Jahreszeit entsprach. Ich weinte an Großmutters Bett, dann fuhr ich zum Labor.

Auf der Straße, ziemlich genau vor dem Eingang, stand ein hellblauer VW-Käfer, aber darauf achtete ich zunächst nicht.

Ich öffnete sowohl die Haustür als auch die Wohnungstür mit meinem Schlüssel, sehr leise, um Till nicht zu wecken, falls er schon schlief. In dem von ihm bewohnten Zimmer sah ich Licht und ich hörte leises Murmeln. Als ich die Tür aufstieß, fuhren Till und das Mädchen gleichzeitig hoch. Sie hatten offensichtlich nebeneinander gesessen auf seiner Schlafcouch, sie waren beide korrekt angezogen. Schwer zu sagen, was für eine Situation das gewesen war – vielleicht war ich zu früh aufgetaucht.

Verlegen guckten alle beide, Till stellte mich dem Mädchen als seine Freundin vor und sagte zu mir: „Das ist Margret, eine Kommilitonin. Wir wollten für die nächste Zwischenprüfung üben.“

Sie war blond und groß, wahrscheinlich recht ansehnlich, wenn auch mit etwas zu langer Nase.

So, sie wollten also zusammen üben. Auf dem Tischchen befanden sich allerdings keine Papiere, die zum Studium gehörten, nur zwei Sektgläser, halb voll.

Ich sagte ohne Umschweife: „Margret möchte jetzt sicher gehen, es ist schon nach elf!“ Und sie schritt zur Garderobe, hakte ihren Mantel ab, nuschelte eine Verabschiedung und verschwand im Treppenhaus.

„Ich dachte, du bist im Krankenhaus?“ fragte Till und trank sein Sektglas leer.

„Meine Großmutter ist vorhin gestorben“, erwiderte ich.

Ich nahm das andere Glas, ging in die Laborküche und schüttete den Sekt in eins der Spülbecken.

„Das tut mir leid“, rief Till. Er umarmte mich und wiegte mich und war sehr bemüht, keine Gespräche zu führen, weder über den Tod noch über Margret. Also erfuhr er wieder nichts von dem Baby.

Das war die erste gesamte Nacht, die ich im Labor schlief. Jetzt brauchte ich ja der Nana nichts mehr vorzumachen.

Ich wachte auf, weil Till nicht mehr neben mir lag, bemerkte ein wenig Licht unter dem Türspalt und hörte seine Stimme von draußen. Ich war zu müde, um hinterher zu schleichen, ich wusste auch so, dass er im Laborbüro mit Irgendwem telefonierte, betont leise.

Nach einer Viertelstunde kam er zurück, legte sich lautlos wieder neben mich und schlief sehr schnell ein, das hörte ich an seinem Atem.

Auf dem Fensterbrett stand die Obstschale aus grünem Glas, die ihm seine Mutter geschenkt hatte. Zwischen den Orangen steckte ein kleines, spitzes, sehr scharf geschliffenes Messer mit Horngriff. Der Mond beschien die Klinge.

Ich dachte, dass der Himmel sich wohl aufgeklärt haben musste, wenn der Mond zu sehen war, und wie erleichternd es wäre, Tills Kehle mit dem Messer durchzuschneiden.

Dann dachte ich weiter, welchen Belästigungen man nach einem begangenen Mord ausgesetzt ist, selbst, wenn es durch die Schwangerschaft mildernde Umstände gäbe. Ich drehte mich auf die Seite und versuchte, auch wieder einzuschlafen.

Als ich in meiner Wohnung stand und überall Nanas vorwurfsvolle Augen zu sehen glaubte, entschloss ich mich, nach London zu gehen. Ich hatte immer eine große Vorliebe für alles Englische gehabt. Mein Kind würde Engländer werden!

Ich kündigte sofort im Waffelhut und in der Reinigungsfirma und löste meinen Haushalt auf, das heißt, ich verkaufte und verschenkte und warf auf den Sperrmüll.

Einen mageren Rest, an dem mein Herz hing, wie Nanas Zither, brachte Conchitas Bruder in seiner Garage unter.

Beim Aufräumen von Nanas Sachen fand ich in einem Fotoalbum ganz vorn zwei Briefe.

Der eine war aus steifem, dickem Papier mit dem eingeprägten Wappen der Familie von Glaas.

In großer, phantasievoller Schrift mit unerwarteten Schleifen und in blassblauer Tinte hatte Tills Mutter meiner Großmutter geschrieben, Anfang Dezember! Sie bat im gegenseitigen Interesse darum, Nana möge verhindern, dass Till und ich zusammen blieben. Über eine eventuelle Vergütung, falls meiner Großmutter bei diesen Bemühungen Unkosten entstehen sollten, ließe sich reden.

Der zweite Zettel war eine Art Kladde, aus einem Rechenheft gerissen. Da hatte Nana ihre Antwort konzipiert, einiges durchgestrichen und verbessert:

Werte Frau Glaß,

ich freu mich auch nicht über die Ferbindung. Mein Mädchen ißt zu gut für irn sohn. Aber ich drängel mich nicht auf weil Sie erwachsen ist. Ich kann Raten aber nichs Verbiten. Sie muß Selbs enscheiden. Ich hass es wenn sich eltern in Partnerschafft einmischen. Bringt pech hab ich Selbs erlebt.

Schreiben sie mir nie mer.

Und Nanas Unterschrift, ohne Grüße.

Ich freute mich über ihre Art, den adligen Namen griffig zu machen. Vielleicht hatte sie wirklich nicht auf die richtige Schreibweise geachtet. Sicher schrieb sie diesen Brief noch einmal sorgfältig und sauber ab, den Stumpen im Mundwinkel, durch den Rauch blinzelnd. Wie schön auch, dass sie auf das geschmacklose Geldangebot überhaupt nicht einging.

Später entdeckte ich noch gesparte Papierscheine in einer Teedose. Das half mir sehr bei den Begräbniskosten.

Das Telefon ließ ich klingeln. Es klingelte dauernd, Tag und Nacht. Ich legte zwei Kopfkissen auf den Apparat. Ich wusste ja, nach einigen Stunden hin- und her telefonieren wäre ich mürbe und würde ins Labor fahren.

Verschiedentlich klingelte es auch an der Tür. Ich blickte nicht durch den Spion. Ich wartete atemlos, bis es vorbei war.

Eine Woche nach Nanas Tod erhielt ich ein Schreiben von der Stadt Hamburg: ich sollte auf’s Bezirksamt kommen, man würde mir einen amtlichen Vormund ausweisen.

Danke, ich war schon halb Engländerin.

Ich buchte eine Hinfahrt mit der Fähre.

Ich schaffte es sogar, eine Au-Pair-Familie zu ergattern in der Eile und ich fand einen Nachmieter, der die Wohnung praktisch nahtlos übernahm.

An einem Montagvormittag Ende Juni bestellte ich mir ein Taxi, nahm meine kleine Reisetasche und wollte vor die Tür – da klingelte das Telefon noch einmal. Ich dachte, jetzt schadet es nicht mehr, gleich bin ich weg, und meldete mich.

Einen kleinen Augenblick war es still, dann nannte Till meinen Namen mit einer so erleichterten, glücklichen, bewegten Stimme, dass es mir das Herz zerriss.

„Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Ich bin fast verrückt geworden! Was war denn nur los? Wo warst du? Geht es dir gut?“

Innerhalb von zwei Minuten sagte er alles, was ich je hatte hören wollten einschließlich eines Heiratsantrags.

Ich klärte ihn über meine Auswanderungspläne auf. Er weinte. Er weinte!

Ich auch.

Er flehte mich an, nicht nach England, sondern sofort zu ihm zu fahren. Ich schluchzte, das sei unmöglich. Er schrie ganz laut. Ich legte mitten in seinem Schrei auf, weil das Taxi klingelte.

Ich heulte im Taxi, in der Fähre und im Zug nach London. Das Wetter war ganz meiner Meinung: es goss in Strömen.

Bei der Waterloo-Station kletterte ich sofort in eine feuerrote Telefonzelle, um Till anzurufen. Wir beteuerten uns unsere Liebe.

Er sagte, ich sollte auf der Stelle zurück nach Hamburg kommen. Ich schluchzte wieder, das sei unmöglich.

Als ich bei meiner Au-Pair-Familie klingelte, trug ich meine Sonnenbrille, obwohl es immer noch regnete, weil meine Augen inzwischen so rosarot aussahen wie die der weißen Versuchsmäuse im Labor.

Ich blieb genau zweiundzwanzig Tage in London, länger hielt ich es nicht aus.

Ich hatte Till nichts davon gesagt, dass ich zurückkam. Ich wollte ihn überraschen – ob allein oder mit Irgendwem.

Ich kam spät nachts in Hamburg an, tappte leise ins dunkle Labor, zog mich vor Tills Zimmertür aus, schlich zu ihm und schlängelte mich unter seine Bettdecke. Glücklicherweise war er allein und wir feierten stundenlang Wiedersehen, bevor wir am Morgen anfingen, uns zu streiten.

Ich entdeckte nämlich, dass er in dem knappen Monat, den wir uns nicht gesehen hatten, die armen Mäuse völlig verwahrlosen ließ.

Sie krabbelten auf- und übereinander in ihren schmutzigen Käfigen, das ganze Zimmer stank entsetzlich.

Stärkere Mäuse rannten hinter schwächeren her, um ihnen Stücke aus den Ohren zu beißen, vielen war der Schwanz abgekaut oder sie hatten große, blutige Wunden im Fell. Kinder sah ich überhaupt nicht, sicher wurden sie vertilgt, sobald sie da waren. Dauernd hörte man ängstliches oder aggressives Gequieke.

Ich machte Till, vor den Käfigen stehend, heftige Vorwürfe. Wahrscheinlich bewegte ich dazu bekräftigend meine Hände. Als ich beide gerade, aneinandergelegt, die Handflächen nach oben, vor meine Brust hielt, sprang plötzlich eine Maus hinein.

 „Wo kam die denn eben her?!“ fragte Till. Wir guckten beide nach oben.

„Vielleicht von einem der Regale – sie muss dir entwischt sein, als du das letzte Mal einen der Käfige geöffnet hast“, vermutete ich.

Vorher hatte ich laut geschimpft, jetzt sprach ich gedämpfter, um die Maus nicht noch mehr zu erschrecken. Ich schaute sie durch meine Finger an. Sie war sehr klein, aber kein Baby mehr; sie besaß bereits ein feines weißes Fell und die Augen hatten sich geöffnet. Ich schätzte ihr Alter auf zwei Wochen.

Sie musste intelligent und tüchtig sein, um so lange in der Mausehölle überlebt zu haben. Ihre rosa Ohren zeigten allerdings große Löcher: man hätte sie wie einen Topflappen an die Wand hängen können. Der kleine rosa Schwanz dagegen schien heil und komplett bis zur Spitze. Sie saß ganz ruhig in meiner Hand, ich spürte die vier kühlen, winzigen nackten Füßchen.

„Komm, gib her, ich steck sie zu den anderen“, verlangte Till und griff nach ihr.

Ich drehte ihm den Rücken zu. „Hände weg! Das ist meine. Sie hat ‚Asyl’ gerufen.“

Ich besorgte ich mir einen alten Vogelkäfig, den ich mit Streu, Trinkflasche und einer kleinen Menge Futter einrichtete.

Die Maus taufte ich Sugar, weil sie süß war und weil sie weiß war. Till fand, ich hätte sie Kokain nennen sollen.

Er billigte nicht unbedingt, dass ich eine der Versuchsmäuse adoptiert hatte. Aber als ich ihr aus Zigarrenkisten ein zweistöckiges Häuschen baute, möbliert mit einer leeren Cremedose voller Watte als Bett, da half er mir dabei. Später fertigte er sogar ein kleines Klettergerät an.

Sugar wurde sehr schnell außerordentlich zahm, durfte viel frei herumlaufen und kam sofort, wenn ich sie rief. Das einzige, was sie fürchtete, waren andere Mäuse.

Sie wurde ein schönes, erwachsenes Weibchen mit dichtem Fell. Aber die Löcher in ihren Ohren blieben natürlich.

Der Sommer war da, die Semesterferien kamen und es wurde sehr heiß. Till litt an Sonnenbrand. Ich wurde sehr braun.

Ich hatte ihm immer noch nichts von meiner Schwangerschaft gesagt.

Hätte er es nicht selbst merken müssen? Schließlich studierte er Medizin. Dies oder Jenes sollte ihm doch auffallen? Falls ja, behielt er das für sich.

Meine Nana hätte gesagt: Manche Menschen halten sich die Augen zu, weil sie hoffen, dass man sie dann nicht sieht.

Till war, nebenbei bemerkt, durch die Zwischenprüfung gefallen. Der Vorwurf hing in der Luft, ich hätte sein Versagen verschuldet, weil ich die Zusammenarbeit mit dieser Margret sabotierte.

Eigentlich hätte er die Ferien nutzen müssen, um sich auf die Wiederholung der Prüfung vorzubereiten. Aber er las nur ständig Taschenbuch-Krimis und trank ziemlich viel Rotwein.

Mir war die Sammlung leerer Flaschen in der Laborküche gleich nach meiner Rückkehr aufgefallen. Auch ein paar Milch- oder Saft- oder Brauseflaschen, aber vor allem Rotwein, dreißig Stück oder mehr. Daneben türmte sich das schmutzige Geschirr.

Onkel Albrecht verbrachte den Sommer in Skandinavien, sonst hätte Till sich nicht getraut, das Labor so verludern zu lassen.

Ich machte sehr viel sauber, sobald ich da war, nicht nur die Mäusekäfige.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen.

Genau wie Till hätte ich, statt einfach Ferien zu machen, dringend einiges tun müssen: mir eine neue Wohnung oder wenigstens ein Zimmer besorgen und eine neue Arbeit. Zudem suchte mich womöglich mein amtlich bestellter neuer Vormund, den ich noch gar nicht kannte. Ich war derzeit nirgends polizeilich gemeldet, das konnte großen Ärger geben. Um all das hätte ich mich kümmern sollen.

Aber ich verschob es von Tag zu Tag.

Einstweilen fütterte Till mich mit durch. Wir aßen hauptsächlich Ravioli aus der Dose oder Brot mit Streichkäse, die billigsten Sachen, die man kriegen konnte. Für ein Bisschen Gesundheit gab es Milch und manchmal Obst.

Von seinem Onkel bekam Till jeden Monat den ‚Scheck’, ein Taschengeld. Er erklärte mir, Onkel Albrecht hätte sich ohne Probleme das Vierfache leisten können, es sei in der Familie von Glaas jedoch Tradition, dass ein Student karg gestellt war und lernen musste, mit wenig auszukommen.

„Vielleicht solltest du dein Haar abschneiden“, sagte Till eines Tages.

Ich starrte ihn verdutzt an. „Aber du hast doch immer gesagt, du findest es so schön – ?“

„Ja. Viel zu schön. Und viel zu wild. Du siehst aus wie Tausendundeinenacht. Wenn ich dein Haar nur angucke, möchte ich es anfassen. Meine Mutter hat Recht, weißt du. Du bist nicht gut für mich, nicht gut für mein Studium. Ich kann mich auf nichts konzentrieren, seit wir zusammen sind. Du bringst mich zu so einer sinnlichen Trägheit…“

„Ich?! Könnte es nicht sein, das ist der Rotwein?“

„Das musst gerade du sagen!“, schrie Till. „Gerade du! Deinetwegen hab ich doch nur mit dem Saufen angefangen, ist dir das nicht klar?“

Ich stand neben dem Berg der leeren Flaschen, hob eine auf und drehte sie um, damit der letzte Tropfen auf die Fliesen tropfte. „Nein. Das war mir nicht klar.“

„Ich frage mich manchmal, ob du so dumm bist oder ob du dich nur so dumm stellst. Ob du wie ein kleines ahnungsloses Tier agierst oder ob du es darauf anlegst, mich fertig zu machen. Seid ihr Zigeunerweiber so? Ist es für euch vielleicht der Sinn des Lebens, Männer kaputt zu machen?“

Ich schleuderte die leere Rotweinflasche nach ihm, er sprang beiseite und sie zersplitterte auf dem Boden. Ich griff sofort nach der nächsten Flasche und dann nach der nächsten und warf sie hinterher.

Es war ein grandioser Krach, die Scherben sprangen und spritzten und klingelten und Till hüpfte, die Augen zugekniffen, einen Arm vor dem Gesicht, hin und her, um auszuweichen. Er konnte aber wohl noch über den Arm blinzeln, denn plötzlich rief er: „Stopp! Die nicht! Da ist Pfand drauf!“

Darüber musste ich lachen. Ich kicherte und hörte auf, zu werfen, ließ die letzte Flasche nur fallen. Sie blieb heil und rollte über den Boden.

Till lachte ebenfalls, er trat über die knirschenden Scherben hinweg zu mir, wir konnten beide nicht aufhören, zu lachen. Er hob mich hoch, trug mich über die Scherben in sein Zimmer und warf mich auf die Schlafcouch. Damit war der Streit für diesen Nachmittag zu Ende.

Irgendwann hatte ich mich bei Conchita, meiner ehemaligen Kollegin, aus England zurückgemeldet. Es stellte sich heraus, dass der Besitzer des ‚Waffelhut’ gewechselt hatte und sie selbst dort nicht mehr arbeitete. Wir verabredeten uns aber in der Innenstadt auf einen Kaffee.

Auf dem Weg vom Dammtor zum Gänsemarkt sah ich plötzlich das große blonde Mädchen mit der langen Nase, Tills Kommilitonin, die eine andere, noch viel blondere Frau begrüßte, mit Umarmung und breitem Strahlen. Als die zweite Dame sich umdrehte, erkannte ich Frigga von Glaas.

Die beiden bemerkten mich glücklicherweise nicht und gingen lebhaft plaudernd, mit eingehakten Armen, an mir vorbei.

Tills Mutter war also eine Freundin von dieser Margret?

Ich konnte jetzt nicht zu Conchita, ich konnte mit niemandem sprechen. Ich drehte mich um, lief zur Alster und dachte nach.

Da hatten wir die Wunsch-Schwiegertochter, ganz klar. Vielleicht war sie sogar adelig, wer weiß?

Ich dachte schon wieder daran, zu fliehen. In eine andere Stadt zum Beispiel, nach München oder so. Andererseits, wieso sollte München schaffen, was London nicht fertig gebracht hatte?

Vielleicht besaß ich zu viel Zigeunerblut. Meine Nana hatte gemeint, eine echte Zigeunerin hat nur eine einzige Liebe in ihrem Leben.

Ich weiß nicht, ob es am gleichen Abend war oder einige Tage später. Till und ich saßen auf seiner Couch und aßen Ravioli, als es klingelte.

Das geschah außerordentlich selten, vor allem abends.

Hin und wieder klingelte mal der Postbote, falls er ein Paket mit Ampullen ablieferte. Till und Onkel Albrecht hatten Schlüssel, ich besaß auch einen, was der Onkel natürlich nicht wissen durfte. Freunde traf Till nie im Labor – auf Wunsch des Onkels; es war ja, streng genommen, keine Wohnung. Wer also konnte das sein?

Till ging nach dem zweiten Klingeln zur Tür und öffnete. Gleich darauf kam er mit zwei Männern ins Zimmer und stellte mich mit ausdruckslosem Gesicht als ‚eine Bekannte’ vor.

Zu mir sagte er ruhig, die Herren wären von der Polizei. Uniformen trugen sie aber nicht, nur ganz normale Anzüge.

Einer der Männer fragte, wo ich wohnte.

Ich nannte meine alte Adresse.

Nun erklärte der zweite Mann, es sei Anzeige erstattet worden wegen Unzucht mit einer Minderjährigen. Sie wollten meine Papiere sehen und ich zeigte meinen Ausweis, in dem ja noch die ehemalige Adresse stand.

Einer der beiden ging ohne weiteres zu Tills Kleiderschrank, klappte ihn auf und suchte mit der Hand, bis er meine beiden Röcke und das graue Kostüm entdeckte. „Aha! Sie wohnen also hier!“

„Durchaus nicht. Die Kleidung gehört meiner Schwester, ich soll sie in die Reinigung bringen“, meinte Till hochnäsig.

„Sie wollten sicher gerade gehen?“, fragte der andere mich streng. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, da meinte Till, es wäre ja kaum acht Uhr und der Gesetzgeber würde sicher nichts dagegen haben, wenn ich noch eine halbe Stunde bliebe?

„Aber nicht über Nacht!“, sagte der strenge Mann.

„Das versteht sich wohl von selbst“, erwiderte Till. Zum ersten Mal fand ich seine Arroganz sehr erfreulich.

Die Männer gingen, nachdem sie noch gesagt hatten, wir müssten uns im Klaren darüber sein, dass die Wohnung unter Beobachtung bliebe.

Till schloss die Tür hinter ihnen und drehte sich langsam zu mir um.

„Anzeige? Wer kann uns denn angezeigt haben?“, fragte ich. „Irgendwelche Nachbarn? Vielleicht waren wir – zu laut? Könnte es nicht dieser Zeitungshändler, dieser Lewandrowski, gewesen sein?“

Till schüttelte den Kopf. „Das war meine Mutter.“

„Deine – – ?“

„Ja. Wenn sie was nicht will, tut sie alles, um es zu verhindern. Sie hat mir schon mal gesagt, Onkel Albrecht würde wegen Kuppelei belangt werden, wenn du hier wohnst.“

„Sie hasst mich“, stellte ich fest.

Till widersprach nicht. Er sagte nur: „Sie beobachten bestimmt wirklich unser Haus. Das heißt, du musst woanders schlafen.“

Er sah auf seine Uhr, zählte die Münzen in seinem Portemonnaie, krabbelte unten im Kleiderschrank herum und holte einige zerknüllte Geldscheine aus einem Stiefel.

„Hast du noch Geld?“, fragte er mich.

„Überhaupt keins.“

Till überflog die heil gebliebenen leeren Flaschen, murmelte: „Das wären noch vier bis fünf Mark Pfand gewesen!“ und durchsuchte dann alle seine Jacken- und Manteltaschen auf Kleingeld.

Er bekam schließlich 36 Mark und ein paar Pfennige zusammen.

„Bitte, pack ein, was du brauchst“, sagte er.

Ich wickelte meine Zahnbürste in Klopapier, legte meine paar Kleider und das Bisschen Unterwäsche in die kleine Reisetasche und füllte etwas Futter für Sugar ab.

„Du willst doch nicht die Maus mitnehmen?!“

„Natürlich will ich das! Meinst du etwa, ich ließe sie dir…? Oder wenn dein Onkel kommt und sie sieht. Der killt sie auf der Stelle!“

„Schon gut. Vielleicht streiten wir uns ausnahmsweise mal nicht“, sagte er leise.

Er suchte im Telefonbuch nach billigen Pensionen in der Nähe und rief überall an, um nach einem Zimmer zu fragen: „Zunächst für eine Nacht, die junge Dame weiß noch nicht, wie lange sie in Hamburg bleiben wird…“

Als er endlich etwas fand, was wir bezahlen konnten, lag das in Eimsbüttel.

Wir nahmen die U-Bahn bis zur Lutterothstraße. Till trug meine Reisetasche und ich den Käfig.

Die Pension sah ziemlich heruntergekommen aus, deshalb war sie ja so preiswert, nur fünfzehn Mark die Nacht mit Frühstück. Vor der Tür zog Till seine Jacke aus und hängte sie über den Käfig.

„Warum tust du das? Sugar kriegt doch keine Luft!“

„Es fragt sich, ob Pensionsbesitzerinnen scharf darauf sind, Mäuse zu bewirten.“

Da mochte er Recht haben.

Eigentlich sah alte Frau so aus, als würde sie nicht mal mich gern bewirten. Sie schnüffelte mich misstrauisch aus ihren großen Nasenlöchern an. Vielleicht war ich ihr zu schwarz? Nach all dem Liegen in der Sonne wirkte ich vermutlich nicht sehr europäisch.

Das Zimmer war düster und besaß nur ein Waschbecken hinter einem Plastikvorhang, keine Toilette und schon gar keine Dusche.

Till gab mir zum Abschied das ganze Geld, falls ich noch eine Nacht bleiben müsste und damit ich was für den Notfall hätte oder Fahrgeld. Ich war furchtbar gerührt: Normalerweise zeigte er sich ziemlich geizig.

„Das ist schon in Ordnung. Ich kann morgen einen Freund anpumpen. Mein nächster Scheck kommt erst in zehn Tagen.“, sagte er traurig.

Wir umarmten uns, als wär’s das letzte Mal.

Till wollte am nächsten Tag sofort nach einem Zimmer für mich in der Nähe des Labors suchen.

Statt ins Bett zu gehen schaute ich Sugar zu, die sich mit ihrem Klettergerüst amüsierte und in ihrem Häuschen herumwuselte. Ab und zu stieg sie an den Gitterstäben auf und ab, was kleine, zirpende Geräusche verursachte, als spiele sie ein Instrument.

Ich ließ sie auf meiner Hand sitzen und schenkte ihr eine Rosine. Sie sah so nett aus, wenn sie auf den Hinterbeinen saß und etwas knabberte.

Irgendwann schlief ich am Tisch ein, im Sitzen.

Am Morgen wachte ich dadurch auf, dass die Pensionswirtin, die ohne zu Klopfen eingetreten war, wie eine Verrückte kreischte, weil die weiße Maus auf meiner Schulter hockte.

Sugar versuchte vor Schreck, sich in meinem Haar zu verstecken, während die alte Frau immer weiter schrie, bis alle möglichen Leute aus ihren Zimmern stürzten, um zu sehen, was passiert war.

Ein Mann in Hosenträgern erzählte, er hätte mal Tanzmäuse gehabt.

Eine dicke alte Person mit strähnigem Haar meckerte, wenn die eklige Maus nicht verschwände, dann würde sie ihr Zimmer kündigen.

Die Pensionswirtin verlangte, ich sollte sofort mit dem Ungeziefer ausziehen.

Ich sagte, ich hätte für die Nacht und das Frühstück bezahlt und letzteres stünde mir zu. Danach würde ich sowieso gehen.

Im ‚Frühstücksraum’ trank ich etwas heißes, Bitteres, das schmeckte wie eine Mischung aus Bohnen- und Malzkaffee und aß hungrig ein Marmeladenbrot.

Plötzlich fiel mir Conchita ein. Ob ich nicht eine Weile bei ihr wohnen könnte, bis wir ein Zimmer gefunden hätten? Ich wollte keine Minute länger in dieser schrecklichen Pension bleiben.

Ich fragte nach dem Telefon und wurde zu einem Münzapparat gebracht.

Es war schwierig, Conchita klarzumachen, um was es ging, ohne, dass die neugierigen Ohren rundherum es auch mitbekamen.

Außerdem musste ich mich entschuldigen und erklären, weshalb ich sie im Café versetzt hatte.

Auf jeden Fall sagte sie ziemlich schnell: „Ach, komm einfach her, Schätzchen, das geht schon irgendwie. Schlimmstenfalls schläfst du in meinem Schlafzimmer auf dem Fußboden auf einer Matratze, was?“

„Großartig, danke!“, sagte ich erleichtert. „Ach, und… macht es dir was aus, dass ich eine Maus dabei hab?“

„Was hast du gerade gesagt? Was hast du dabei?“

„Eine weiße… eine Versuchsmaus. Sie ist sehr niedlich…“

„Ich dachte, ich hab mich verhört. Nein, das macht mir nichts. Die stinken, oder? Mein kleiner Neffe hatte mal so was. Ja, die stinken. Macht nichts, wenn sie zu dir gehört, bring sie mit! Komm am besten gleich. Weißt du überhaupt, wo ich wohne?“

„In Winterhude, glaube ich?“

„Richtig. Nimm die U-Bahn bis Lattenkamp, da hole ich dich ab. Wann kannst du ungefähr hier sein? Pass auf, ich geh einfach hin und warte auf dich. Irgendwann im Lauf der nächsten Stunde wirst du schon ankommen!“

Ich bezahlte bei der alten Frau, nahm meine Reisetasche, die ich überhaupt nicht ausgepackt hatte, griff den Käfig und ging.

Als ich in der U-Bahn saß, merkte ich erst, dass mit Sugar etwas nicht stimmte.

Sie kauerte hinter ihrem Häuschen, seltsam bewegungslos, mit hängenden Ohren und trüben Augen. Ihre Schnauze sah schmuddelig aus, als ob brauner Schaum daran klebte. Dann entdeckte ich verschiedene kleine Pfützen von Erbrochenem in der Streu.

Plötzlich begriff ich, dass irgendwer sie vergiftet haben musste. Die Pensionswirtin oder die dicke Person oder alle beide zusammen hatten dem ‚Ungeziefer’, während ich frühstückte und telefonierte Wer-weiß-was gegeben, Gift oder Putzmittel, es war sehr leicht, so ein kleines Tier umzubringen, man musste nur etwas Schädliches auf einen Keks tropfen.

Sugar fiel auf die Seite und atmete viel schneller als sonst. Der Schaum auf ihrer Nase wurde immer mehr und jetzt hellrot. Sicher verblutete sie innerlich. 

„Stirb nicht!“, flüsterte ich. „Bitte, stirb nicht, Sugar. Das halte ich nicht auch noch aus.“

Ich hatte plötzlich das Gefühl, als ob dies das Schlimmste überhaupt sei. Ich hätte gern alles (mein Baby, Till, alle meine Pläne) aufgegeben, wenn nur die Maus am Leben blieb.

Ich fing an zu Heulen, meine Tränen tropften von oben durch die Gitterstäbe auf meine sterbende Maus.

Eigentlich glaube ich immer noch, dass dies der entsetzlichste Moment in meinem ganzen Leben war. Verzweiflung steht nicht unbedingt im direkten Verhältnis zum Anlass – in diesem Fall ungefähr sechs Zentimeter.

Ich weinte noch, als ich am Lattenkamp ausstieg. Ich stolperte, die Augen voller Tränen, aus der U-Bahn, über den Bahnsteig, und dann fiel ich die steinerne Treppe hinunter, von der ersten bis zur letzten Stufe.

Ich hörte, wie der Käfig neben mir polterte und ich dachte: jetzt ist sie sowieso tot…

Dann knallte ich, ziemlich weit unten, mit dem Kopf auf eine Treppenkante. Als ich der entsetzten Conchita vor die Füße fiel, war ich schon bewusstlos.

Ich kam im Rettungswagen zu mir, weil sie die Sirene einschalteten. Ich hatte große Schmerzen, vor allem Bauchweh. Eine Weile später fuhr der Wagen auf ein Krankenhausgelände. Ich erkannte die Klinik, in der meine Nana gestorben war.

Ich dachte, ich muss irgendwem sagen, dass sie Till anrufen sollen.

Dann verlor ich wieder das Bewusstsein.

Ich blieb beinah drei Wochen lang im Krankenhaus. Als ich es verließ, war fast schon wieder Herbst.

Mein amtlicher Vormund besuchte mich mehrmals, ein netter Mann mit mehr Falten als ein Bluthund und riesigen Tränensäcken.

Er grämte sich, dass er mir nicht vorher begegnet war, er bildete sich ein, er hätte die Anzeige und den Sturz und die Fehlgeburt verhindern können.

Conchita holte mich ab, im Auto ihres Bruders. Auf dem Rücksitz stand der Käfig und Sugar kletterte fröhlich an den Gitterstäben auf und ab.

„Irgendwie war sie nicht in Ordnung, ich hab ihr Milch gegeben, da ging’s ihr bald wieder gut“, erzählte Conchita.

Übrigens hatte sie Till nicht benachrichtigt.

Niemand hatte das getan.

Vielleicht glaubte er, ich hätte ihn schon wieder verlassen.

Ein paar Tage später fuhr ich nach Niendorf.

Als ich in die Straße einbog, in der das Labor lag, sah ich Margrets hellblauen VW-Käfer genau vor der Tür stehen, da ging ich gleich wieder zurück zur Bahn.

Ich war schließlich bereit gewesen, alles dafür zu geben, dass Sugar am Leben blieb.

Der Maus konnte ich’s nicht übel nehmen.

Sie wurde, nebenbei bemerkt, fast fünf Jahre alt, das ist für ein kleines Nagetier dieser Art ein biblisches Alter.

Die Nana hatte durchaus Karten gelegt und Handlinien gelesen, für Nachbarinnen und Kolleginnen, aber zu mir sagte sie immer: „Du musst klug lügen, so, wie es hilft. Zukunft gibt es nicht. Zukunft entsteht gerade jetzt, jeden Tag. Wenn wir vorher sehen könnten, was mit uns passieren wird, würden wir vielleicht die Hoffnung verlieren und nicht weiter machen.“

Die Zukunft des schwarzen Mädchens kann ich jetzt erst sehen, nachdem sie zur Vergangenheit erstarrt ist.

Es ist so lange her, dass es nicht mehr weh tut.

 


2 Antworten zu “Nachtrag zum Tag der ersten Liebe: Schwarzes Mädchen, weiße Maus”

  1. Hallo Dagmar,
    sehr sehr bewegende, zu Herzen gehende Geschichte.
    Im Bezug auf die erste Liebe kann ich Folgendes erzählen. womit
    ich an die Geschichte vom Thema her anknüpfen kann…:
    Meine Urur-Großmutter stammte von einer alten adeligen Familie, welche jüdischen Glaubens war.
    Sie verliebte sich in einen Mann, der nicht adelig, und noch schlimmer, katholisch war.
    Sie konvertierte um, und heiratete ihn.
    Sehr sehr mutig damals !
    Das Ende vom Lied war, das sie von Ihrer Familie verstoßen wurde.
    Titel weg, Geld weg, .Erbe weg, ..keine Familie mehr… zumindest von dieser Seite…
    Die Liebe gehalten, aller Widrigkeiten und HIndernissen zum Trotz….,

    PS:
    Wenn es nicht so gewesen wäre, wer weiß, ob es mich je gegeben hätte..
    😉
    Liebe Grüße
    Heike

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