Epidemien


Das letzte Buch des Neuen Testaments ist die Offenbarung des Johannes, der darin die vier apokalyptischen Reiter beschreibt. Der vierte der Reiter ist farblos und sitzt auf einem farblosen Pferd, er hat die Macht, ein Viertel aller Menschen zu töten, er ist das Symbol für die galoppierende Seuche.

Ich las als kleines Mädchen die Novelle ‚Fahles Pferd und fahler Reiter‘ von Katherine Anne Porter. Das hat mich tief beeindruckt. Es geht in der Erzählung um Miranda, eine junge New Yorker Journalistin, in den letzten Tagen des ersten Weltkriegs. Sie hat Adam kennengelernt, einen Soldaten, der auf seinen Einsatz an der Front in Europa wartet. Die Spanische Grippe ist eben ausgebrochen, die Krankenhäuser füllen sich, immer mehr Menschen werden krank – und dann merkt Miranda, dass sie sich angesteckt hat. Sie liegt in einem Pensionszimmer bei einer unfreundlichen Wirtin, die ihr nicht hilft und die sie gern loswerden möchte. Aber da kommt Adam und nimmt alles in die Hand. Er telefoniert – zunächst vergeblich – mit Kliniken, um ein Bett für Miranda zu bekommen. Er kauft in einer Nachtapotheke Medikamente für sie und gibt sie ihr ein, er tröstet sie und heitert sie auf. Beide erinnern sich an ein altes Spiritual, das sie gehört haben: „Fahles Pferd und fahler Reiter, lass meinen Liebsten, reite weiter …“ und versuchen gemeinsam, es zu singen. Dann sagt Adam ihr, was sie sehr gehofft hatte: dass er sie liebt. Obwohl sie sich so furchtbar fühlt, ist sie glücklich. Er geht noch einmal fort, um Kaffee zu besorgen – und inzwischen wird Miranda doch von einer Ambulanz abgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Sie verliert das Bewusstsein und ist lange sehr, sehr krank. Als sie sich schließlich erholt, erfährt sie, dass Adam tot ist. Er hatte sich bei ihr angesteckt und war beinah sofort an der Grippe gestorben.

Seuchen eignen sich wie Kriege und andere Katastrophen prima für literarische oder dramaturgische Bearbeitung. Das Außergewöhnliche, gerade das Schreckliche, ist spannend, so was liest man gern oder man schaut es sich mit Vergnügen an. Mittendrin zu stecken ist weniger erfreulich. Spielen wir nur eine Nebenrolle oder sind wir Hauptperson im Drama? Das wissen wir erst, wenn es vorbei ist.

Glücksfaktor: Corona ist trotz allem wahrscheinlich nicht die schlimmste Seuche, die wir je hatten …

 

 

 


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